Erinnerungskultur
Innsbruck stellt sich seiner Geschichte des Lagers Reichenau
Abseits von politischen Diskussionen rund um Personalbesetzungen, Tempo-30-Einführung oder Neugestaltung des Domplatzes stellt sich der Gemeinderat auch der Geschichte des "Arbeitserziehungslagers Reichenau". 75 Jahre nach dem Prozess gegen einige Verantwortliche und 50 Jahre nach Aufstellung des Gedenksteins ist eine zeitgemäße und würdige Erinnerungskultur im Fokus.
INNSBRUCK. Ab 9 Uhr tagt am 23.2. der Gemeinderat mit seinen 40 Mitgliedern in der Messe. Auf der Tagesordnung stehen der Blick auf die aktuellen europäischen Themen mit MEP Günther Sidl, die Tempo-30-Beschränkung, das Frauenförderungsprogramm 2023, die Zukunft des 50-Meter-Schwimmbeckens oder einmal mehr die Auflösung des Gemeinderates und die Amtsenthebung von StR Uschi Schwarzl. Für emotionelle Debatten scheint also gesorgt. Mit entsprechender politischer Verantwortung soll der Bericht der Kommission zum Lager Reichenau und die weitere Vorgangsweise im Gemeinderat diskutiert werden.
Das Lager
Das Lager Reichenau in Innsbruck-Reichenau wurde im August 1941 im Auftrag des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) Berlin in Zusammenarbeit mit dem Landesarbeitsamt Innsbruck errichtet. Bis zum Sommer 1942 diente es seinem ursprünglichen Zweck als Auffanglager für italienische Zivilarbeiter und anschließend zum Arbeitserziehungslager umfunktioniert.
Es unterstand in dieser Form direkt dem jeweiligen Leiter der Geheimen Staatspolizei, Staatspolizeistelle Innsbruck und war dazu bestimmt, „die im Gau Tirol/Vorarlberg wegen Arbeitsvertragsbruchs, Blaumacherei oder Dienstpflichtverweigerung auffallenden männlichen Personen aufzunehmen und durch strikte Disziplin und schwere Arbeit zu brauchbaren Volksgenossen zu erziehen.“
Gegen Ende des Krieges wurden zunehmend auch politische Häftlinge der Gestapo Innsbruck in der Reichenau gefangengehalten. Ab 1943 diente das Lager auch als Durchgangslager für Juden aus Norditalien auf dem Weg ihrer Deportation. Insgesamt waren im Lager Reichenau rund 8500 Personen inhaftiert. Im April 1945 waren hier die 141 Sonder- und Sippenhäftlinge, die kurz darauf in Südtirol befreit wurden, für ein paar Tage untergebracht. Nach dem Krieg diente das Lager als Unterkunft für sogenannte Displaced Persons und später für Menschen ohne oder mit niedrigem Einkommen, bevor es in den siebziger Jahren abgerissen wurde. 1972 wurde ein Gedenkstein in der Nähe des ehemaligen Standorts des „Arbeitserziehungslagers Reichenau“ als Mahnmal errichtet. 51 Jahre später gab es am Holocaust Gedenktag erstmals eine gemeinsame Kranzniederlegung. Mit der Vorlage des Berichtes der Expertinnen- und Expertenkommission rückt auch eine neue Gedenkstätte in den Mittelpunkt.
Das Dossier der BezirksBlätter Innsbruck zum Lager Reichenau
Der Bericht
Auf 115 Seiten wird die Geschichte des Lagers in der Reichenau dargestellt. Im Auftrag des Innsbrucker Gemeinderates wurde im Juli 2021 eine Kommission zusammengestellt, in der Expertinnen und Experten sowie Politikerinnen und Politiker des gemeinderätlichen Kulturausschusses einerseits bisherige Forschungslücken definierten und teilweise schlossen, andererseits Empfehlungen an den Gemeinderat für den weiteren Umgang mit dem Gedenken bzw. zur Gestaltung eines neuen Gedenkens erarbeiteten. Der Kommission unter Vorsitz von GR Irene Heisz und dem Leiter des Innsbrucker Stadtarchivs, Lukas Morscher, gehörten Christoph Haidacher (Direktor des Tiroler Landesarchivs), Gabriele Hammermann (Leiterin der KZ-Gedenkstätte Dachau), Sabine Pitscheider (Wissenschaftsbüro Innsbruck e. V.), GR Theresa Ringler sowie Dirk Rupnow (Institut für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck) und Horst Schreiber (_erinnern.at_Tirol) an. Gabriele Neumann vom Bundesdenkmalamt wurde beigezogen. Bereits die Einleitung zeigt die Wichtigkeit der geschichtlichen Aufarbeitung: "Wenn heute umgangssprachlich vom „Lager Reichenau“ die Rede ist, dann ist das historisch nicht korrekt. In der Rossau befanden sich das eigentliche Arbeitserziehungslager (AEL), daneben ein Kriegsgefangenen- und Zivilarbeiterlager der Stadt Innsbruck, ein Lager der Deutschen Reichspost und eines der Bahn. In und um Innsbruck befanden sich mehr als 30 (!), wahrscheinlich aber um die 40 weitere kleinere Firmenlager. Deren Erforschung steht erst am Anfang." Im Bericht wird festgehalten:
„Das Denkmal neben dem Eingang des städtischen Recyclinghofes, das seit 1972 dort steht, ist als historische Errungenschaft und Setzung zu würdigen, entspricht jedoch in keiner Weise mehr den Anforderungen an eine zeitgemäße Erinnerungskultur. Die Inschrift ist inhaltlich nicht korrekt, die Ästhetik des Denkmals überholt und der Standort denkbar ungeeignet für die Abhaltung von Veranstaltungen, Exkursionen von Schulklassen u.ä. Vor allem aber ist der aktuelle Ort eines angemessenen Gedenkens an die Opfer und deren Leid nicht würdig.“
Künftiges Gedenken
Auf Basis des Forschungsberichts der Kommission soll eine neue, zeitgemäße und den Opfern würdige Gedenkstätte entstehen. Das Land Tirol hat bereits im vergangenen Jahr beschlossen, sich an der Umsetzung der neuen Gedenkstätte zu beteiligen.
Die Kommission empfiehlt hier eine zentrale Gedenkstätte an der innseitig gelegenen städtischen Grünfläche in der Nähe des bestehenden Denkmals. Das neue Mahnmal soll alle Namen der Toten enthalten und als hybride Dokumentations-, Lern- und Gedenkstätte dienen, die sowohl mit analogen als auch digitalen Mitteln der Verpflichtung lebendiger und zeitgemäßer Gedenkkultur nachkommen kann. Wetterunabhängige Aufenthaltsmöglichkeiten, beispielsweise für Schulklassen, sollen ebenfalls Teil des neuen Gedenkortes sein.
Für die Planung und Umsetzung der anvisierten neuen Gedenkstätte empfiehlt die Kommission die Ausrichtung eines Wettbewerbs. Auch eine mögliche Integration des bestehenden Denkmals kann laut Expertinnen- und Expertenbericht evaluiert werden, die endgültige Form der Umsetzung der neuen Gedenkstätte ist abhängig vom Wettbewerbsergebnis.
Der Prozess
Vor 75 Jahren fand in Innsbruck der Prozess vor dem französischen „Tribunal Supérieur“statt. Angeklagt wurden
Werner Hilliges, Gestapochef in Innsbruck von 1940 und 1944. Hilliges hat im Lager am 2.6.1943 Egon Dubsky ermordet. Dubsky wurde am 7. Februar 1897 in Innsbruck geboren. Er war der Besitzer der ersten Tiroler Essig-, Spirituosen- und Likörfabrik. Die SS verwüstete seinen Betrieb in der Pogromnacht im November 1938 und verschleppte ihn in die Heil- und Pflegeanstalt Hall. Im Mai 1943 wurde er in das Arbeitserziehungslager Innsbruck-Reichenau gebracht. Dubskys Geschichte wird auch im Raum der Namen des Holocuat Denkmals Berlin erzählt.
Hilliges hat mehrfach Menschen aus dem Lager, die kein Verbrechen begannen haben und von keinem Gericht verurteilt wurden, hängen lassen. Angeklagt wurden auch Max Nedwed, Gestapocheif 1944 bis 1945, Josef Rauscher, Wachmannschaft, Mathias Köllemann, Lagersanitäter, Erwin Flach, Waffen-SS Lagerdienst, Johann Payr, Waffen-SS Lagerdienst und Hermann Harm, Wachmannschaft.
Die Urteile
Werner Hilliges wurde zu lebenslänglichen Gefängnis mit Zwangsarbeit verurteilt. Hilliges wurde am 3.12.1955 begnadigt und begann 1956 Selbstmord. Max Newdwed wurde zu 20 Jahren Gefängnis mit Zwangsarbeit. Nedwed wurde nach einer Amnestie am 14.7.1954 aus dem Gefängnis entlassen. Matthias Köllemann wurde zu 15 Jahre Gefängnis mit Zwangsarbeit verurteilt und am 26.5.1955 frühzeitig aus der Haft entlassen. Josef Rauschers Verfahren wurde vom Reichenauer-Prozess getrennt und Rauscher wurde 1949 zu einem Jahr Haft verurteilt. Erwin Falch bekam 10 Jahre Gefängnis mit Zwangsarbeit und wurde am 15.7.1952 entlassen, das Urteil für Johann Payr lautete 7 Jahre Gefängnis mit Zwangsarbeit und Payr wurde am 23.12.1950 aus der Haft entlassen, Hermann Harm bekam 4 Jahre Gefängnis mit Zwangsarbeit und wurde am 14.4.1949 frühzeitig aus der Haft entlassen.
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