Inklusion bei Arbeit
Viele Betroffene erhalten nur Taschengeld statt Lohn

Was läuft hierzulande falsch in Sachen Inklusion, und wo ist Luft nach oben? Ein Gespräch mit Vertretern der Lebenshilfe Österreich gibt Antworten. 

ÖSTERREICH. In Österreich gilt es im Hinblick auf Inklusion noch Vieles aufzuholen. Philippe Narval, Generalsekretär der Lebenshilfe Österreich und Christina Holmes, Referentin für Recht und Inklusionspolitik bei der Lebenshilfe im Gespräch mit MeinBezirk über berufliche und bildungspolitische Wünsche sowie Erwartungen im Alltag für die Teilhabe von Menschen mit Behinderung am gesellschaftlichen Leben in Österreich.

MeinBezirk: In einem aktuellen UNO-Bericht wird Österreichs Umgang mit Menschen mit Behinderungen scharf kritisiert. Besonders über die Lage von Mädchen und Frauen mit Behinderung sowie über Rückschritte im Bildungssystem zeigen sich Experten "zutiefst besorgt" und orten vor allem auf Landesebene enormen Aufholbedarf. UN-Berichterstatter Markus Schefer verglich das System der Sonder- und Regelschulen mit der "Rassentrennung in den USA". Menschen mit Behinderungen würden so in Parallelwelten gezwungen. Was sind die wichtigsten Punkte, um aus diesem Dilemma herauszukommen?
Philippe Narval: Ich kann bestätigen, dass der Kontakt zu Menschen mit intellektueller Behinderung selten ist, da diese oft schon im Kindergarten segregiert werden und später in Sonderschulen und Werkstätten landen. Dies führt zu einem Mangel an menschlichem Kontakt, der in weiterer Folge Menschen mit Behinderungen aus der Gesellschaft ausschließt. Der UN-Bericht zur Umsetzung der Behindertenrechtskonvention enthält klare Empfehlungen, die wir unterstützen, da die Konvention für uns als Lebenshilfe von zentraler Bedeutung ist. Ein Hauptthema ist die Abschaffung der Sonderschule: Es ist bereits in vielen EU-Ländern Usus, inklusive Schulen zu schaffen, in denen Kinder mit und ohne Behinderungen gemeinsam lernen und individuell unterstützt werden.

Philippe Narval: "Es ist extrem benachteiligend, wenn Kinder mit Behinderung abgesondert werden. Der Stempel „Sonderschule“ ist schwer abzulegen. " | Foto: Martin Baumgartner
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Was ändert sich dadurch?
Erstens wird hier ein Menschenrecht umgesetzt. Es ist extrem benachteiligend, wenn Kinder mit Behinderung abgesondert werden. Der Stempel „Sonderschule“ ist schwer abzulegen. In Italien wurde 1977 die Sonderschule aufgelöst, und seither wird inklusiv unterrichtet. Wie kann das hier funktionieren? Ein Aufnahmestopp für Sonderschulen, die dann in inklusive Schulen umgewandelt werden, wäre ein möglicher Weg. In Wien gibt es ein Beispiel: Eine HTL, in der 30 Prozent der Schülerinnen und Schüler eine Behinderung haben und alle die nötige Unterstützung erhalten. Zweitens folgt nach dem Stempel „Sonderschule“ oft Arbeitslosigkeit oder Arbeit in Werkstätten nur mit Taschengeld. Was wir und vor allem Menschen mit Behinderung sich wünschen, ist echte Teilhabe – sowohl am Arbeitsmarkt als auch am sozialen Leben.

Die besten Projekte für gelebte Inklusion stehen fest

Wie kann das geschehen?
Einige argumentieren, dass geschützte Orte notwendig sind, wenn die Leistungsfähigkeit nicht passt. Doch Beispielprojekte unseres Inklusionspreises zeigen, dass inklusive Arbeitsplätze mit Assistenz und staatlicher Gehaltsbeteiligung tatsächlich möglich sind. Ein Beispiel ist ein Bäckereibetrieb in einem Spital in Hohenems, wo Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen erfolgreich arbeiten. Das beweist, dass inklusive Bildung und der inklusivere Arbeitsmarkt nicht nur wünschenswert, sondern ein realistisch umsetzbares Menschenrecht sind. Es ist auch wichtig, dass Menschen mit intellektueller Behinderung Zugang zu persönlicher Assistenz haben. Ich habe kürzlich eine junge Frau im Rollstuhl getroffen, die vor Jahren das letzte Mal im Kino gewesen ist, weil ihr schlichtweg die Unterstützung, dorthin zu kommen, fehlt.

Christina Holmes: "Die Rahmenbedingungen im Studium müssen verändert werden. Menschen mit Behinderungen sollten mehrere Studien absolvieren können, und Zeitbeschränkungen sollten aufgehoben werden." | Foto: Martin Baumgartner
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Bereits im Kindergarten sind Plätze für Kinder mit Behinderungen Mangelware – allein in Wien fehlen 850 Plätze – was dem von Österreich unterzeichneten Anti-Diskriminierungsrecht widerspricht. Wir wissen aber gleichzeitig, dass an Personal Mangelware herrscht. Wie lautet da Ihre Forderung?
Wir müssen dringend in die Frühförderung investieren – für alle Kinder, mit oder ohne Behinderung. Jeder Euro, den wir in Kindergärten und Frühförderung stecken, zahlt sich vielfach aus, mehr als spätere Reparaturen. Johannes Kopf, Chef des AMS, sagt, er würde sich den besten Kindergarten der Welt für Österreich wünschen. Unsere Forderung, in Frühförderung zu investieren und allen Kindern mit Behinderung einen Kindergartenplatz zu garantieren, bringt der gesamten Gesellschaft Vorteile. Dafür braucht es mehr Geld, Ressourcen, bessere Qualifikation und Gehälter für Pädagogen sowie einen klaren Rechtsanspruch. Frühzeitige Integration und Förderung eines Kindes zahlen sich besonders später im Leben aus, vor allem für Kinder mit Behinderung. Es braucht mehr Ressourcen und politisches Engagement.

Unternehmen sind verpflichtet, je 25 Arbeitnehmer einen begünstigt behinderten Arbeitnehmer einzustellen. Viele Betriebe zahlen stattdessen eine Ausgleichstaxe zwischen derzeit 276 Euro und 411 Euro pro Monat. Experten sehen letztlich auch im Fachkräftemangel eine Chance für Unternehmen, umzudenken und Menschen mit Behinderung einzustellen. Sind Sie mit der Ausgleichstaxe zufrieden?
Ich bin mit der Ausgleichstaxe nicht zufrieden, da sie nur eine Reparatur eines fehlerhaften Systems ist. Wir müssen einen Inklusionsfonds schaffen, um mehr Menschen aus Werkstätten auf den ersten Arbeitsmarkt zu bringen, mit Begleitung, Assistenz und sozialarbeiterischer Unterstützung – auch für Unternehmen. Viele Unternehmen sind begeistert, wenn sie gut informiert werden und die Stärken der Menschen erkennen. Es erfordert eine menschliche Haltung, Menschen nach ihren Stärken statt Defiziten zu beurteilen – eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Dringend nötig sind mehr Programme, die den Weg in den Arbeitsmarkt unterstützen. Ein Pilotprojekt des Sozialministeriums zeigt, wie es geht: Ein Klient mit hohem Unterstützungsbedarf arbeitet halbtags als Schnitzelpanierer in einem Gasthaus in der Steiermark. Beide Seiten profitieren – der Wirt hat Personal, und der Klient nimmt aktiv teil. Dafür braucht er einen Fahrtendienst, was die Bedeutung ganzheitlicher Unterstützung zeigt.

Philippe Narval: Inklusive Bildung und der inklusivere Arbeitsmarkt sind nicht nur wünschenswert, sondern ein realistisch umsetzbares Menschenrecht. | Foto: Martin Baumgartner
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Im neuen Jahr kommt die lang ersehnte neue Prüfungsordnung an Schulen. Erhöht die Option zur Matura in Gebärdensprache langfristig die Chancengleichheit für Gehörlose im Bildungssystem, oder bleiben auch hier weitere Hürden bestehen?
Diese Anerkennung der Gebärdensprache ist ein wichtiger Schritt, aber das Problem ist noch vielfältiger als bei der Inklusion von Menschen mit intellektueller Behinderung. Wenn gehörlose Kinder im Kindergarten und in der Schule kein Umfeld finden, in dem sie Gebärdensprache nutzen können, fallen sie zurück. Es braucht schulische Angebote, in denen sie ihre Muttersprache im Austausch verwenden können. Der Schritt, irgendwann in Gebärdensprache maturieren zu können, ist ein Fortschritt, doch wichtiger wäre es, Schulstandorte zu schaffen, an denen Kinder mit ihren Mitschülern gebärden können. Der Traum ist, Schulen zu haben, in denen alle Mitschüler Gebärdensprache lernen – was auch kognitive Vorteile bringt. Es bleibt jedoch eine Herausforderung, da Assistenz allein oft nicht ausreicht und diese Kinder bei Übersetzungen zurückfallen. Es ist ein erster Schritt, aber der Bereich erfordert umfassende Ansätze.

Alle Waren, Dienstleistungen und Informationen, die für die Öffentlichkeit bestimmt sind, müssen barrierefrei angeboten werden. Ab 28. Juni 2025 werden mit dem Barrierefreiheitsgesetz bestimmte Unternehmen verpflichtet sein, für bestimmte Produkte und Dienstleistungen (Computer, Mobiltelefone, etc), aber auch für Reisen (barrierefreie Selbstbedienungsterminals) barrierefreie Anforderungen einzuhalten. Bei Nichteinhaltung drohen Verwaltungsstrafen bis zu 80.000 Euro. Was erwarten Sie sich davon?
Bei jeder Verbesserung der Barrierefreiheit profitieren nicht nur Menschen mit Behinderungen, sondern auch viele andere Gruppen. Abgeschrägte Gehsteigkanten, die für Rollstühle wichtig sind, erleichtern auch den Zugang für ältere Menschen, Kinderwagen oder Eltern. Ebenso profitieren alle von einfacher Sprache und benutzerfreundlichen digitalen Angeboten. Diese Verbesserungen kommen einer breiten Gesellschaft zugute, auch wenn wir für Minderheitenrechte kämpfen. Über 50 Prozent der Österreicher haben Schwierigkeiten, Texte über B2-Niveau zu verstehen, weshalb einfache Sprache im Barrierefreiheitsgesetz wichtig ist. Auch bei Bedienungsfeldern, wie an ÖBB-Automaten, zeigt sich der Bedarf. Verbesserungen in diesem Bereich helfen nicht nur Menschen mit Behinderungen, sondern auch älteren, dementen und allen Menschen, die sich mit technischen Geräten schwerer tun. Diese Maßnahmen belegen, dass unsere Forderungen auch der breiten Bevölkerung zugutekommen.

Laut Experten von myAbility.jobs wirkt sich der Kündigungsschutz, der erst nach vier Jahren und nicht, wie früher, nach sechs Monaten eintritt, positiv auf die Bereitschaft der Unternehmen aus, Menschen mit Behinderungen einzustellen. Haben Sie da ähnliche Beobachtungen gemacht?
Wenn Barrieren abgebaut sind, braucht es keine rechtlichen Bevorzugungen wie beim Kündigungsschutz. Dafür ist jedoch ein funktionierendes Support-System notwendig. Die Lebenshilfe, als Interessenvertretung von Menschen mit intellektueller und Mehrfachbehinderung, sieht hier die größte „Baustelle“ im Bereich der Menschenrechte: Viele Betroffene sind arbeitslos, erhalten nur Taschengeld und haben kaum Zugang zu Assistenz oder Maßnahmen, die den Weg in den Arbeitsmarkt ebnen. Der Inklusionspreis zeigt großartige Beispiele, wie das Kleinstadtbiotop in Vöcklabruck, wo Arbeitgeber ohne vorherigen Bezug zu Behinderungen plötzlich offen sind. Sie freuen sich, etwa jemanden fürs Teigkneten in der Pizzeria zu haben, und die Betroffenen sind glücklich, aus einem geschlossenen Werkstattsetting herauszukommen.

Christina Holmes: Ich glaube, ein ganz wichtiger Punkt war, dass viele Unternehmen gesagt haben, sie hätten trotzdem gerne eine gewisse Zeit, um sich anzusehen, wie gut die Zusammenarbeit funktioniert, welche Rahmenbedingungen benötigt werden, und wie diese gestaltet werden können. Danach sind die Unternehmen oft gerne bereit, einen längerfristigen Kündigungsschutz mitzutragen. Genau das zeigt sich jetzt positiv in der Praxis.

Christina Holmes: Wenn man nebenbei berufstätig ist, wird es schwierig, besonders weil viele Studienfächer schwer mit behinderten-bedingten Zeitaufwänden vereinbar sind.  | Foto: Martin Baumgartner
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Studienbeihilfenbezieherinnen und -bezieher mit Behinderungen erhalten ab dem Sommersemester 2025 um 50 Prozent höhere Zuschläge. Zudem werden die Voraussetzungen für die Zuschläge sowie für eine Verlängerung der Anspruchsdauer neu geregelt. Reicht das aus?
Christina Holmes: Es müsste eigentlich viel mehr getan werden. Das finanzielle Thema, wie die Studienbeihilfe, ist eines, da gibt es noch Verbesserungspotenzial. Ein weiteres Problem ist, dass persönliche Assistenz nur für ein einzelnes Studium gewährt wird und zeitlich limitiert ist. Wenn man nebenbei berufstätig ist, wird es schwierig, besonders weil viele Studienfächer schwer mit behinderten-bedingten Zeitaufwänden vereinbar sind. Zum Beispiel bei Reha-Aufenthalten, die regelmäßig stattfinden, kann es problematisch sein, wenn Institute strikte Anwesenheitsquoten verlangen. Auch die zeitliche Einschränkung der persönlichen Assistenz während des Studiums ist ein Problem, da sich viele Studierende mit Behinderungen auch beruflich oder familiär engagieren und dementsprechend wie Menschen ohne Behinderung auch länger brauchen würden. Hier fehlen Regelungen, die Studium und Behinderung leichter kombinierbar machen. Zudem gibt es keine Statistik darüber, wie viele Studierende mit Behinderungen ihr Studium erfolgreich abschließen. Ein gravierendes Problem, da angenommen wird, dass viele Studierende mit Behinderungen schnell aus dem System fallen, weil die Rahmenbedingungen fehlen. Nur eine Uni in Österreich erhebt diese Daten. Weiters ist auffallend, dass Privatuniversitäten Menschen mit Behinderungen bessere Rahmenbedingungen bieten als öffentliche.

Philippe Narval, Christina Holmes: Unsere Forderungen sind keine Wünsche ans Christkind, sondern Menschenrechte. Erstens fordern wir den Zugang zum Arbeitsmarkt.  | Foto: Martin Baumgartner
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Welche Wünsche haben Sie an die neue Bundesregierung?
Philippe Narval: Unsere Forderungen sind keine Wünsche ans Christkind, sondern Menschenrechte. Erstens fordern wir den Zugang zum Arbeitsmarkt. Über 30.000 Menschen mit intellektueller Behinderung erhalten in Österreich keinen Lohn, sondern nur Taschengeld. Wir wissen, wie es möglich ist, Menschen in den Arbeitsmarkt zu integrieren und ihnen einen fairen Lohn zu ermöglichen, während gleichzeitig eine stille Reserve von Menschen, die arbeiten und eine Leistung erbringen wollen, zu inkludieren.

Christina Holmes:  Eine wichtige Forderung ist ein umfassender Ausbau der persönlichen Assistenz, damit alle Menschen mit Behinderung die Unterstützung erhalten, um selbstbestimmt leben zu können – zu studieren, zu arbeiten und Hobbys nachzugehen. Diese Bereiche sind für Menschen ohne Behinderung selbstverständlich, erfordern aber für Menschen mit Behinderung persönliche Assistenz. Die Rahmenbedingungen im Studium müssen verändert werden. Menschen mit Behinderungen sollten mehrere Studien absolvieren können, und Zeitbeschränkungen sollten aufgehoben werden. Die Regelungen müssen an die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung angepasst werden, um Benachteiligungen zu vermeiden. 

Danke für das Gespräch.

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