Wissensforum Hirschwang
"Wir sind die Agenten unserer eigenen Geschichte"

- Vor rund 200 Teilnehmenden analysierte Jürgen Meindl die sicherheitspolitische Lage Europas und plädierte für eine ausgewogene Aufrüstung im Rahmen gemeinsamer EU-Strukturen. (Archiv)
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Beim Hirschwanger Wissensforum am Dienstag, 22. April, blickte der österreichische Botschafter Jürgen Meindl auf die aktuellen geopolitischen Umwälzungen – und mahnte zu Verantwortung und Reformen in Europa. Fragen zur Aufrüstung standen auch auf dem Programm.
NÖ. Was passiert, wenn politische Fehlentscheidungen, wirtschaftliche Krisen und soziale Unsicherheiten zusammentreffen? Diese Frage stand im Zentrum des Impulsreferats von Jürgen Meindl beim diesjährigen Wissensforum in Hirschwang an der Rax, organisiert von der Arbeiterkammer Niederösterreich und dem ÖGB Niederösterreich.
Meindl, derzeit österreichischer Botschafter in Belgien, zeichnete ein klares Bild der politischen Gegenwart: Sie sei von Entwicklungen geprägt, die an die dunkelsten Kapitel der europäischen Geschichte erinnerten. Kriege, wachsender Populismus, der Rückbau sozialer Sicherheit und die Vernachlässigung drängender Themen wie der Klimakrise seien Symptome eines Europas im Rückzug.
Wir sind keine Zuschauerinnen und Zuschauer
„Wir sind die Agenten unserer eigenen Geschichte“, betonte Meindl mehrfach. Für ihn ist klar: Europa darf sich nicht treiben lassen. Vielmehr müsse es selbstbewusst Position beziehen und den Ursachen aktueller Krisen entgegentreten. Die Verantwortung für den aktuellen Zustand Europas sieht er nicht bei äußeren Umständen, sondern bei politischen Eliten und technologischen Akteuren, die Entwicklungen zugelassen oder gar gefördert hätten.

- Mit deutlichen Worten erinnerte Botschafter Jürgen Meindl daran, dass Neutralität kein politischer Stillstand sein dürfe, sondern aktives Engagement in internationalen Missionen verlange. (Archiv)
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Auch wirtschaftlich habe Europa an Bedeutung verloren – mittlerweile erwirtschaftet der Kontinent weniger als 60 Prozent des weltweiten Bruttoinlandsprodukts. Die Liste der Einschnitte sei lang: Finanzkrise, Krim-Annexion, Migrationsbewegungen, Pandemie und Krieg in der Ukraine. Diese Ereignisse hätten ein Bild des Kontrollverlusts erzeugt.
Zwischen Friedensdividende und Rüstungslogik
Ein besonderer Fokus seines Vortrags lag auf der europäischen Verteidigungspolitik. Die Welt sei im Begriff, massiv aufzurüsten, sagte Meindl. Die Vereinigten Staaten gäben jährlich rund 950 Milliarden US-Dollar für ihre Armee aus. In Europa hätten demnach viele Länder ihre Verteidigungsbudgets erhöht.
Meindl plädierte klar für eine europäische Nachrüstung, allerdings mit Maß: Gemeinsame Rüstungseinkäufe könnten Milliarden einsparen, ineffiziente Strukturen in den Armeen müssten abgebaut werden. Auch Österreich könne profitieren: Rund 11.000 Menschen seien hierzulande in der Sicherheitsindustrie beschäftigt, hinzu kämen etwa 200 Zulieferbetriebe. Die Branche sei stark forschungsorientiert, was Chancen für Innovation und neue Arbeitsplätze biete.
Neutralität unter Beobachtung
In einem heiklen Punkt nahm Meindl kein Blatt vor den Mund: Die Neutralität Österreichs sei ein historisch gewachsenes Konzept, dürfe jedoch nicht zum Dogma werden. Derzeit sei es zwar politisch kaum durchsetzbar, daran zu rütteln – aber Dogmen gehörten letztlich ins Museum, so Meindl. Neutralität bedeute nicht, tatenlos zuzusehen. Er erinnerte an internationale Einsätze des Bundesheeres in Tschad, Afghanistan und am Golan und stellte klar: „Wir sind keine Trittbrettfahrer.“
Ein Appell an die Verantwortung Europas
Meindl forderte ein neues europäisches Selbstverständnis – getragen von Reformbereitschaft, sicherheitspolitischem Augenmaß und dem Mut, unbequeme Fragen zu stellen. Der Vortrag war damit nicht nur eine politische Standortbestimmung, sondern auch ein Aufruf, sich der eigenen Handlungsmacht bewusst zu werden. Geschichte sei kein Schicksal, sondern ein Produkt menschlichen Handelns.
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