Grazer Katastrophensoziologe Gerhard Grossmann im Corona-Interview:
"Krisengedächtnis der Menschen ist leider kurz"

Gerhard Grossmann hat das Katastrophenmanagement vor knapp 20 Jahren auf eine akademische Ebene gehoben: "Corona ist deshalb anders als alles bisher Dagewesene, weil dieser unsichtbare Feind uns alle bedroht." | Foto: Schrödingers Katze
  • Gerhard Grossmann hat das Katastrophenmanagement vor knapp 20 Jahren auf eine akademische Ebene gehoben: "Corona ist deshalb anders als alles bisher Dagewesene, weil dieser unsichtbare Feind uns alle bedroht."
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Gerhard Grossmann hat die medizinsoziologische Notfall- und Katastrophenforschung vor knapp 20 Jahren auf ein akademisches Level gehoben und fungiert nun als wichtige Anlaufstelle in der Erforschung der Coronavirus-Pandemie. Die WOCHE hat den Experten zum Lerneffekt aus der Krise, zur Bedeutung richtiger Prävention sowie zur Krisenfestigkeit der Österreicher befragt.

Medizinsoziologische Notfall- und Katastrophenforschung, das klingt sehr sperrig, was versteht man darunter?
Gerhard GROSSMANN:
"In diesen Bereich bin ich quasi hineingewachsen. Habilitiert habe ich mich als Medizinsoziologe, wo ich Mitte der 1980er-Jahre das Notfallgeschehen in Graz anhand von Umweltfaktoren untersucht habe – damals stark kritisiert, mittlerweile wurde schon mehrfach bewiesen, dass Umweltfaktoren krank machen. Kurz darauf passierte der Reaktorunfall von Tschernobyl, wo ich ebenfalls in die Erforschung der Auswirkungen involviert war.
2000 kam dann der Quantensprung, wenn man so will. Da habe ich an der Universität für Gesundheitswissenschaften, Medizinische Informatik und Technik (UMIT) in Tirol den ersten Universitätslehrgang aufgebaut. Damit war der Grundstein für das Katastrophenmanagement auf akademischer Ebene gelegt.

Was macht man mit dieser Wissenschaft, wenn nicht gerade Corona wütet?
Es ist definitiv keine Wissenschaft, die vom Schreibtisch aus betrieben wird. Wir leben von dem, was passiert (ist), und nicht von dem, was passieren wird. Ich bin beispielsweise auch für die Küstenwache in Triest tätig, unterstütze hier bei Not- und Krisensituationen. Außerdem haben meine Kollegen und ich auch die "Barcolana" (größte Segelregatta der Welt im Golf von Triest, Anmerk. d. Red.) begleitet. Notfälle kann man nur dann bewerten, wenn man auch selbst dabei ist. Wir haben dabei Stürme, Männer über Bord und vieles mehr gehabt. Die Soziologie auf Schiffen ist spannend und interessant, weil es keine Fluchtmöglichkeit gibt.

Sind Sie jetzt auch soviel unterwegs? 
Nein, momentan laufen alle Stränge auch bei mir zu Hause zusammen, wo ich an der Erarbeitung von Präventionsplänen für künftige Krisenfälle à la Corona beteiligt bin.

Was ist Ihre Aufgabe dabei?
Gemeinsam mit Norbert Pfeifer, der übrigens damals in Tirol bei mir studiert hat und nun medizinischer Leiter der Notfallaufnahme des Klinikums in Meran ist, arbeite ich das Datenmaterial aus Italien auf, um in Zukunft neue Präventionspläne zu entwickeln. Wie kann man in entlegenen Dörfern – wie jetzt in Italien – mit dieser Krisenproblematik umgehen? Telemedizin wird ein großes Thema werden. Warum gab es in Italien so extreme Auffälligkeiten örtlicher Natur? Was lässt sich daraus auf andere europäische Länder umlegen?

Inwiefern ist das auf Österreich umlegbar?
Parallel arbeiten wir auch die österreichischen Daten auf. Allerdings stellt sich unter anderem ein Problem: Es gibt keinen weltweit gültigen Zählmodus bei dieser Pandemie, es fehlen die Parameter. Ein Meter ist ein Meter und das überall auf der Welt … bei Corona wird in jedem Land anderes gezählt, daher muss man sich jede Statistik einzeln anschauen. Hier einen allgemeinen Maßstab zu finden, wäre mein Wunsch, ein etwas utopisches Ziel, aber vielleicht schaffen wir einen Ansatz.

Was ist das Besondere an dieser Krise?
Erstens ist es eine Bedrohung, die weit über das hinausgeht, was wir bis dato kennen. Es betrifft uns alle. Solche Unwägbarkeiten haben wir immer ganz weit weggeschoben. Corona ist nicht weit weg, sondern direkt unter uns. Man kann es nicht aktiv bekämpfen, es wütet wie ein unsichtbarer Feind. Zweitens wirft das Virus viele unserer Konventionen über Bord:  Jetzt ist es höflich, auszuweichen, nicht die Hand zu geben. Man muss sich vermummen. Das alles sind starke Einschnitte in die soziale Interaktion …. Selbst wenn man nicht krank ist, ist man betroffen, durch Arbeitslosigkeit oder die gravierende Einschränkung der gewohnten Freiheiten. sind gravierend eingeschränkt. Diese Perspektiven waren unmöglich.

Stichwort einschränkende Maßnahmen, waren diese Ihrer Meinung nach richtig? 
Da muss man aufpassen, nachher ist es immer leichter zu urteilen. Das Paket war in dieser Form auf jeden Fall adäquat, man kann es kaum anders oder besser machen . Das sieht man auch im internationalen Vergleich ... Aber vielleicht lernt man künftig daraus, dass man nicht alles kürzen sollte – ich denke an die Spitalsbetten. Einen Staat muss man anders führen, als eine Autowerkstatt.

Sie meinen, dass mehr in Prävention investiert wird?
Es wird zwar gerne über Prävention gesprochen, aber dieses Thema ist – auch politisch gesehen – nicht populär. Prävention kostet nur und man hat nichts davon ... bis zu einer Krise. Das Katastrophengedächtnis der Menschen ist halt kurz – daher fürchte ich, dass der Lerneffekt nicht so lange anhalten wird, vor allem nicht bei der Politik.

Wie krisenfest sind die Österreicher – im Vergleich zu anderen Nationen?
Man muss dazu sagen, dass Österreich bis dato keine großen Katastrophen erlebt hat. Jetzt hat sich allerdings gezeigt, dass letztendlich die subjektive Risikoeinschätzung der Menschen die Oberhand behält. Obwohl von allen Seiten bekräftigt wurde, dass die Lebensmittelversorgung gesichert ist, hat es die Hamsterkäufe gegeben. Da muss man sich schon die Frage stellen: Wer bleibt dann übrig, wenn es wirklich eng wird? Wir sind noch einmal an der Ressourcenknappheit vorbeigeschrammt, aber der Zivilschutzgedanke müsste definitiv mehr gelebt werden. Das ist eine Frage der Verteilungsgerechtigkeit.

Noch einmal zurück zu den Präventionsplänen, die Sie gerade erarbeiten. Ist der Bund da bereits auf Sie zugekommen, um für die Zukunft zu lernen?
Wir sind dabei, ein größeres "Pflichtenheft" für die Politik zu entwerfen. Sobald der erste Hype abgeflaut ist, werden wir diese Ansätze auch mitteilen.  Ich sehe mich als Wissenschafter in einer  dienenden Funktion. Wenn die Politik mit unserem Wissen arbeitet, würde Druck aus der Politik rausgenommen werden und quasi im "Team" ließen sich Krisen besser bewältigen. 

Zur Person:
Als Experte für die "Katastrophensoziologie" ist Gerhard Grossmann, Institut für Soziologie, zur Zeit sehr gefragt. In Zusammenarbeit mit Norbert Pfeifer, medizinischer Leiter der Notfallaufnahme des Klinikums in Meran, Südtirol, erstellt Grossmann, ausgehend von der aktuellen Pandemie, ein Vulnerabilitätsprofil und eine Risikomatrix für die kritische Infrastruktur in Italien und Österreich. Darauf aufbauend soll ein umfassender Präventionsplan ausgearbeitet werden.
Grossmann betätigt sich zudem in der Funktion als Rettungsrat für das mobile "Scientific-Emergency-Operation-Center" (SEOC) als wissenschaftlicher Berater des Landesrettungskommandos ASB (Arbeiter-Samariter-Bund) Steiermark. Nicht zuletzt fungiert Grossmann als dienstführender Einsatzoffizier auf dem Rescue-Lifeboat "SEASTAR": mit den Schwerpunkten Quarantäne und Evakuierungen auf See. Auch in diesem Projekt wird grenzübergreifend mit Notfallklinikum Meran kooperiert.

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