Blick auf die Geschichte
Harte steirische Kindheit: Schicksal Findelkind

Der "Kopfzettel" von 1865 über das Findelkind Anna Humm.  | Foto: Wien Museum
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  • Der "Kopfzettel" von 1865 über das Findelkind Anna Humm.
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Dass das Leben anno dazumal nicht einfach gewesen ist, das dürfte außer Frage stehen. Neben den Umständen, wie man den Alltag meistern musste, waren die Familienstrukturen auch noch nicht so geregelt, wie sie es heute sind bzw. verstanden werden: Kinder wurden "anders" betrachtet, Findelkinder erst recht. Sie wurden direkt nach der Geburt abgegeben und zum Arbeiten an andere Menschen "weitergereicht".  Mitte des 19. Jahrhunderts galt die Steiermark als "Hochburg" der Findelkinder.

STEIERMARK. Heute steht außer Frage, was ein Kind ist, einst musste "Kind" aber erst definiert werden: Das Grimmsche Herkunftswörterbuch etwa bestimmt eine "Nachkommenschaft" im Sinne von "Kind von". Und das ist aus mehreren Gründen interessant: Zum einen sagt das Wort an sich nichts über die emotionale Komponente aus, wie wir sie heute mit Kindern assoziieren, zum anderen wird lediglich erklärt, zu wem die "kleine Person" gehört. Das Kind per se hatte also keinen gesonderten gesellschaftlichen Status.

"Kind": Ein Begriff, der anno dazumal anders verstanden wurde als heute. | Foto: National Library of Medicine/unsplash
  • "Kind": Ein Begriff, der anno dazumal anders verstanden wurde als heute.
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Blickt man auf das Jahr, nämlich 1838, in dem Jacob und Wilhelm Grimm damit begannen, Wörter und Wortschatz des Neuhochdeutschen und ihre Etymologie zu katalogisieren, kann man darüber hinaus getrost davon ausgehen, dass zumindest bis zu diesem Jahr die Grimmsche Definition "Kind" für alle gültig war. 

Zwischen Wien und Graz

Das Findelkind ist eine Bezeichnung für ein aufgefundenes, in der Regel namenloses Kind, das zuvor von den unbekannten Eltern kurz nach der Geburt ausgesetzt oder abgegeben wurde. Sie kamen einst in Findelanstalten unter – neben Graz galt in den Jahren von 1872 bis 1899 die Südoststeiermark mit den Bezirken Hartberg-Fürstenfeld und Weiz als die Hochburg. Warum diese Region(en)? Sie lag zwischen den großen Häusern in Wien und Graz. In der "Zeitschrift des Historischen Vereins für Steiermark, Jahrgang 78" schreibt Karl Kaser, dass ein Großteil der Grazer Findelkinder bis 1850 in die Oststeiermark gebracht wurden, hier sind Pöllau, Birkfeld, Anger, St. Stefan, Gleisdorf, Fehring, Feldbach oder auch Gnas und Riegersburg zu nennen. 

In der Paulstorgasse 8 gab es ein Findel- und Gebärhaus. | Foto: Jorj Konstantinov
  • In der Paulstorgasse 8 gab es ein Findel- und Gebärhaus.
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Eine Arbeitskraft mehr

Die meisten Findelkinder stammten aus ärmlichen Familien und von alleinstehenden Frauen. Der Nachwuchs wurde, wenn er gesund war, an Bauern- und Arbeiterfamilien weitergereicht. Kaser schreibt, dass sie bei Schneidern, Schuhmachermeistern, bei Bauern oder Keuschler und Bergler untergebracht wurden. Sofern von Gesundheit gesprochen werden kann, denn die Findelhäuser galten alles andere als hygienisch (davon abgesehen, dass nicht alle Kinder mit Muttermilch und Milch von Ammen ernährt werden konnten: Bei Verdacht auf Syphilis setzte man gar auf Wasser, weshalb diese Kinder als "Wasserkinder" bezeichnet wurden), und so viele überlebten die Transporte erst gar nicht. 

Mit freundlicher Genehmigung der Familie: In der zweiten Zeile dieser Blätter aus einem Sterbebuch ist von einer "Glück Franziska" zu lesen, darunter steht, dass sie ein Findelkind aus Wien war. | Foto: Privat
  • Mit freundlicher Genehmigung der Familie: In der zweiten Zeile dieser Blätter aus einem Sterbebuch ist von einer "Glück Franziska" zu lesen, darunter steht, dass sie ein Findelkind aus Wien war.
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Für die vorübergehende Aufsichtsperson war ein Findelkind eine lukrative Quelle: Zum einen wurde die Aufnahme für Findelkinder gezahlt, zum anderen waren sie Arbeitskräfte, die nicht bezahlt werden mussten. Jederzeit, rund um die Uhr, zu jeder Jahreszeit. Dies ersparte etwa Bauernfamilien die Anstellung einer Magd oder eines Knechts. Unter welchen Bedingungen die Kinder heranwuchsen, war zwar formal gesehen wichtig, im Alltag sah es großteils aber anders aus:

"Dazu kam, daß eine behördliche Beaufsichtigung der Findelkinder nur ansatzweise gegeben war. Bis zum Jahr 1896 mußte das zuständige Pfarramt jedes Vierteljahr eine Bestätigung über die gute Pflege und ärztliche Versorgung und der Lehrer eine Bestätigung über den regelmäßigen Schulbesuch des Kindes ausstellen. Diese Beaufsichtigung war genauso wenig effizient wie jene der Ortsarmenräte, die seit dem Jahr 1896 in jedem Ort eingerichtet werden mußten. So ist es nicht verwunderlich, daß die Findelkinder vielfach unter desolaten und unwürdigen Bedingungen heranwuchsen."
Karl Kaser, "Zeitschrift des Historischen Vereins für Steiermark, Jahrgang 78"

Der "Kopfzettel" von 1865 über das Findelkind Anna Humm.  | Foto: Wien Museum
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Am schlechtesten sollen zu diesen Zeiten die Verhältnisse im Gerichtsbezirk Pöllauberg gewesen sein, "wo beinahe alle Findelkinder infolge schlechter Ernährung an Rachitis und Wasserkopf litten und in weiterer Folge dem Kretinismus verfielen. Wenn man bedenkt, daß der Anteil der Findelkinder an der Gesamtbevölkerung in den Gerichtsbezirken Hartberg und Pöllau im Jahr 1894 bereits über zehn Prozent betrug, war die Befürchtung eines damaligen Beobachters, daß eine neue Generation verkommener Menschen heranzuwachsen drohe, nicht von vornherein zurückzuweisen".

Wer waren die Mütter?

Betrachtet man das Wort Findelkind, darf man schon fragen, ob der Terminus darauf abzielt, dass die Kinder "gefunden" oder "abgegeben" wurden. Von fehlender Mutterliebe wird wohl kaum eine Rede sein, auch, wenn es sicher Frauen gegeben hat, die keine Bindung zu "Kind von" aufbauen konnten. Vielmehr waren es soziale Nöte und der soziale Stand, der die Frauen zwang, ihre Kinder weiterzureichen. Mit der Errichtung von Findelanstalten wollte man aber erreichen, dass die Mortalität zurückgeht, immerhin werden aus Babys irgendwann Erwachsene, und damit Teil der Aufrechterhaltung der Habsburger Monarchie. Die großen Häuser waren deshalb auch staatliche Einrichtungen. In der Verzweiflung sollen die Mütter ihre Kinder also eher loswerden, als sie zu töten.

Der große Teil der Mütter war Mägde, die selbst ein karges, schweres Leben führten.  | Foto: Jennifer Burk/unsplash
  • Der große Teil der Mütter war Mägde, die selbst ein karges, schweres Leben führten.
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Geht es nach Kaser, waren es vor allem Mägde und Keuschlertöchter sowie Bergler- und Bauerntöchter, die ihre unehelichen Kinder bekamen und sie zu Findelkindern machten: "Von den 308 oststeirischen Mütter, die im Jahr 1850 im Gebärhaus der Grazer Findelanstalt entbanden und ihre Kinder in der Anstalt hinterließen, waren ohne einzige Ausnahme unverheiratete Mägde." Mägden drohte nämlich die Entlassung vom Dienst, wenn sie Kinder bekamen – eine Ausnahme bildet die Obersteiermark, denn hier soll es etliche Höfe gegeben haben, an denen die Frauen ihre Kinder behalten konnten, ohne die Arbeit zu verlieren. 
Darüber hinaus: Die Väter waren meist selbst Knechte oder die Kinder das Ergebnis ungewollter Schwangerschaften und Vergewaltigungen. Wenn die Mägde die Kinder in Obhut geben wollten, hätten sie dafür Kost und Logis zahlen müssen. Die Findelhäuser waren also die einzige denkbare Möglichkeit.

Als in Graz im Landeskrankenhaus eine Gebärklinik eröffnet wurde, wurde die Lage für viele Mütter einfacher. | Foto: Marija Kanizaj
  • Als in Graz im Landeskrankenhaus eine Gebärklinik eröffnet wurde, wurde die Lage für viele Mütter einfacher.
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Eine Wende für das Schicksal dieser Kinder brachte die Zwischenkriegszeit. Zu Beginn des Jahres 1923 wurde in Graz im Landeskrankenhaus eine Gebärklinik eröffnet, die allen armen, sowohl verheirateten als auch unverheirateten Frauen, kostenlos zur Verfügung stand. Zeitgleich wurden unehelich geborene Kinder unter den Landesschutz gestellt – das Land Steiermark übernahm, und damit auch eine Unterhaltszahlung, bis diese geklärt werden kann. Die Behörden schalteten sich ein und drängten darauf, dass Findelkinder bei Verwandten aufwachsen können. In der Oststeiermark wurden nach und nach Fürsorgesysteme errichtet. Die Kinder "wurden von der zuständigen Fürsorgeschwester regelmäßig besucht und hinsichtlich Ernährung, Pflege, Bekleidung, Schlafstelle, Erziehung, Schulbesuch und Verwendung zu häuslichen Arbeiten überwacht", so Kaser.

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