Warum Praxis Theorie immer schlägt
Erfahrung

- hochgeladen von Danijel Okic
Als ich mich auf dem Parkplatz umziehe und meinen Fuß mit einer weiteren Schicht Kinesio-Tape einrolle, kehrt etwas Beruhigung ein: Das Band hält und ich kann mich – fast gänzlich ohne Schmerzen – nach vorne zur Startlinie des Marathons bewegen. Die Zweifel größtenteils abgelegt, geht es einige Minuten später los.
Die ersten fünf Kilometer laufe ich – wie immer – langsam und mit kleinen Schritten. Ich weiß, was passiert, wenn ich es gleich zu Beginn übertreibe – will es nicht wieder auf die Spitze kommen lassen wie beim Ultramarathon im Januar. Auch muss ich vorsichtig sein, niemanden von den anderen Läufern umzurennen – wir sind sehr viele und die Bahn ist an manchen Stellen sehr eng.
Meinen Höhepunkt, was Kraft und Ausdauer betrifft, habe ich zwischen Kilometer sechs und fünfzehn – ich renne mein schnellstes Rennen und spüre meine Verletzung kaum. Auch meine anderen Handicaps machen sich – noch – nicht bemerkbar, der immer wieder krampfende rechte Zehenbeuger bereitet mir – noch – keine Probleme. Ich übersteige problemlos, habe sogar – das erste Mal bei einem Marathon – Spaß dabei, beim Prozess. Das ist mein Moment.
Dann Schnitt – zu früh gefreut. Mein Laufrausch hält nicht lange an. Ich beende den Halbmarathon zwar in einer für mich phänomenalen Zeit von unter zwei Stunden, muss es mir aber eingestehen: Mein Körper wird langsam müde. Trotzdem steigere ich mein Tempo weiter, passiere dann Kilometer 25 und setze mir ein Ziel von 3o Kilometern. Wie im Vorjahr erlaube ich mir erst nach diesem Meilenstein eine kurze Gehpause – ansonsten würde ich mir zu viel psychischen Druck für die Bewältigung der restlichen Kilometer aufbauen.
Ein weiteres Hindernis: Ich bemerke schon seit einer längeren Weile – zuerst leichte, dann zunehmend stärkere – Magenkrämpfe. Etwas will raus. Schließlich kann ich es nicht mehr halten, mache eine kurze Pause auf der Läufertoilette.
Mein Herz klopft unnachgiebig, Schweiß tropft mir von der Stirn. Muss wieder auf die Strecke. Ich fühle mich immer noch nicht gut, habe aber keine Zeit, lange darüber nachzudenken. Die letzte Schlacht beginnt - das letzte Viertel des Marathons. Ich laufe weiter.
Es ist inzwischen sehr anstrengend und ich beginne sogar meinen Sinnzu hinterfragen. Der Kampf scheint unüberwindbar: Schmerzen, Erschöpfung, Durst und Krämpfe. Ich versuche, mich immer wieder an den Grund meines Seins zu erinnern und mit Hilfe dessen meine merklich abgefallene Geschwindigkeit wieder zu steigern. Es gelingt mir jedoch nur kurz - muss mich wieder drosseln. Der Schmerz sitzt zu tief. Zum ersten Mal beginne ich an meinem Warum zu zweifeln.
Weil ich es kann. Es hat vor einem Monat noch so überzeugend geklungen. Tue ich jedoch wirklich deshalb? Ich trete in einen inneren Dialog mit der Anstrengung und dem Schmerz: „Warum tust du dir das an?“, fragen sie mich. Was will ich mir beweisen?, frage ich mich. Oder besser: Was will ich den anderen beweisen? Ist mein Warum etwa doch nicht authentisch? Tue ich wirklich um des Tuns willen? Oder möchte ich doch – tief im Inneren -, Anerkennung von außen? Ich finde kein Antwort, bin zu sehr von den beiden abgelenkt.
Weiter geht es: Ab Kilometer 35 muss ich noch einmal alles in mir zusammennehmen – habe keine Kraft mehr, jogge nur noch langsam in Richtung Ziel. Möchte aufhören. Möchte weinen. Kann nicht mehr. In jenem Augenblick denke ich an alle guten Menschen, die ich unterwegs getroffen habe. Ich denke an die Liebe, die ich von den uns anfeuernden Zuschauern erhalten habe. Und ich erinnere mich dann an alle Unterschiede, die ich vielleicht mit meinen motivierenden Gesten für die anderen Läufer gemacht habe. Genau darum geht es. Ich laufe weiter.
Auch nach Kilometer 39 kehrt dieses Mal noch keine Erleichterung ein. Ich quäle mich bei jedem Schritt. Auch mein Fußheber macht mir wieder Schwierigkeiten - muss mich überwinden, nicht stehen zu bleiben. Schritt für Schritt und Meter für Meter bewege ich mich in Richtung des Zieles – weiß an diesem Punkt nicht, ob ich jemals wieder einen Marathon laufen werde, bin mir nicht sicher, wie lange mein Körper diesen immensen Belastungen noch standzuhalten in der Lage sein wird. Wann ist genug? Ich werde schließlich noch gebraucht, darf meine Mitmenschen nicht hängen lassen. Muss stark bleiben!
Nach knappen 04:30 Stunden ist es dann geschafft – ich laufe ins Ziel ein und bleibe endlich stehen. Vor lauter Erschöpfung bin ich jedoch nicht einmal in der Lage, mich richtig zu freuen. Mir ist schwindlig und ich übergebe mich kurz darauf in einer Ecke. Dann richte ich mich langsam auf, humple Richtung Ausgang. Ich habe Schmerzen, fühle mich dehydriert und muss aufpassen, nicht zu stürzen. Was ist passiert?
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