Steiermark
Novemberpogrom: Die Nacht, die die Menschlichkeit veränderte
Der 9. November 1938 war ein Mittwoch. Ein Tag, der als Novemberpogrom im kollektiven Gedächtnis der Menschheit bleiben wird. Zur Erinnerung daran: ein Blick auf die Steiermark dieser Zeit.
STEIERMARK. Lange war der Begriff "Reichskristallnacht" für die Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 im allgemeinen Sprachgebrauch. Auch wenn es eine Bezeichnung ist, die als zynisch betrachtet werden kann, so spiegelt sie doch wider, was geschah: "Reichskristallnacht" – das bezog sich auf all die Scherben von zerstörten Fenstern und Auslagen, die hinterlassen wurden, als Gotteshäuser, Geschäftsräumlichkeiten und sogar Privatwohnungen/-häuser von Jüdinnen und Juden zerstört wurden.
Diese Nacht war von langer Hand geplant, auch, wenn sie als "spontaner Volkszorn" verstanden wurde (und heute noch wird). Spätestens seit dem "Anschluss" Österreichs – der Eingliederung des austrofaschistischen Österreichs in das nationalsozialistische Deutsche Reich – im März 1938 wurde die Herrschaft des Nationalsozialismus auf europäischem Boden formell besiegelt. Die Ermordung von Diplomat und Botschaftssekretär Ernst von Rath in Paris durch den 17-jährigen Juden Herschel Grynszpan am 7. November 1938 war ein willkommener und politisch-strategisch guter Grund, die Diffamierung, Ausgrenzung, Verfolgung, Deportation und Ermordung der Jüdinnen und Juden "offiziell" und organisiert zu machen.
Die Propaganda tat, wie schon zuvor, ihr Übriges. So schrieb der "Völkische Beobachter", die Propaganda-Zeitung der NSDAP, zu Rath: "Es ist klar, daß das deutsche Volk aus dieser neuen Tat seine Folgerungen ziehen wird. [...] Die Schüsse in der deutschen Botschaft in Paris werden nicht nur den Beginn einer neuen deutschen Haltung in der Judenfrage bedeuten [...]."
Reaktionen zur Nacht
Während über den Novemberpogrom und dieser schicksalshaften Nacht für die jüdische Bevölkerung nicht berichtet wurde – unabhängige Medien lassen sich nicht mit Regimetreue verbinden, und wenn, dann war es eben der "spontane Zorn des Volkes" als Reaktion auf Raths Ermordung –, waren auch die steirischen Zeitungen voller Schweigen. Das "Grazer Tagblatt" schrieb am 11. November über den "Brand im Grazer Judentempel" unter anderem:
"Nach Bekanntwerden des Ablebens des durch feige jüdische Mörderhand niederstreckten deutschen Diplomaten von Rath haben sich im ganzen Reich spontane judenfeindliche Kundgebungen entwickelt. Die tiefe Empörung des Volkes machte sich dabei auch vielfach in starken antijüdischen Aktionen Luft."
"Grazer Tagblatt"
Unter der Überschrift "Nächtliches Großfeuer" heißt es:
"Das israelitische Bethaus am Grieskai 54, kurz der Judentempel, wurde von empörten Menschenmassen gestürmt und ging dann in Flammen auf. Die Kuppel des Tempels ist eingestürzt, was sich im Tempel befunden hat, ist verbrannt. Auch das Haus der israelitischen Kultusgemeinde und das anliegende jüdische Schulhaus wurden beschädigt und am Donnerstag mußte die Zeremonienhalle am jüdischen Friedhof in Wetzelsdorf, Mühlstraße 1, der Erbitterung der Massen weichen. Die städtischen Feuerwehren erschienen rasch auf den Brandplätzen, hatten aber keine Möglichkeit mehr, einzugreifen."
"Grazer Tagblatt"
Nun könnte man meinen, die Redaktion sei besonders mutig und habe dem NS-Regime die Stirn geboten – wäre da nicht der letzte Absatz:
"Heute ragen die kahlen Mauern zum Himmel. Sie klagen die gesamte jüdische Rasse an, die mit ihren tausendfachen Verbrechen den Zorn und die Erbitterung des deutschen Volkes herausgefordert hat."
"Grazer Tagblatt"
Die "Steirische Grenzwacht. Wochenblatt für die Gerichtsbezirke Leibnitz, Radkersburg, Mureck, Wildon, Arnfels" beschäftigte sich am 13. November redaktionell mit dem "feigen Mordanschlag auf deutschen Diplomaten".
Das jüdische Leben
Graz hatte mit rund 900 Jüdinnen und Juden im Jahr 1938 die größte und zentrale jüdische Gemeinde in der Steiermark. Neben der Landeshauptstadt gab es kleinere Ansammlungen in weiteren Städten und Ortschaften, jedoch bildeten diese selten offizielle Gemeinden. Mancherorts gab es zumindest Gebetsräume oder die Gemeinschaft versammelte sich zu religiösen Anlässen, ohne formell als Gemeinden organisiert zu sein. Dazu gehörten vereinzelt Orte wie Bruck an der Mur und Judenburg.
Oder Leoben: Ludwig Röhr betrieb ein Schuhgeschäft in der Timmersdorfergasse in Leoben, das im Rahmen der Novemberpogrome 1938 arisiert wurde. Angesichts des bereits in den Jahren zuvor stark zunehmenden Antisemitismus in der Öffentlichkeit in Leoben investierten Ludwig und Irene Röhr bereits zu Beginn der 1930er-Jahre einen Teil ihres Vermögens in ein Grundstück in Palästina. 1934 erwarben sie ein Haus in Haifa, 1939 emigrierten sie nach Palästina und betrieben dort eine Wäscherei. Während der Novemberpogrome 1938 wurde Ludwig Röhr verhaftet und zusammen mit 14 weiteren Leobnerinnen und Leobner nach Wien gebracht, und wieder freigelassen.
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