Einblicke - 100 Jahre Jehovas Zeugen in Kärnten

- Foto 4: Familie Heide
- Foto: (Quelle: Verein Lila Winkel)
- hochgeladen von Andrea Deblaise
Ob an der Haustür oder mit mobilen Infoständen auf öffentlichen Plätzen – Jehovas Zeugen sind nicht nur in Kärnten ein vertrauter Anblick.
Weltweit zählen sich aktuell ca. 8,7 Millionen Menschen aus allen Kulturen zu der christlichen Glaubensgemeinschaft.
In Kärnten gibt es derzeit 2.350 aktive Zeugen Jehovas, 118 davon in Spittal. Im Fokus der Gemeinschaft steht der zwischenmenschliche Dialog, um die Bibel jedem, der das möchte, zugänglich zu machen. (Foto 1)
Dass Jehovas Zeugen am Puls der digitalen Zeit sind, beweist ihre barrierefreie Website jw.org, auf der Artikel, Videos und Audio-Material in über 1.000 Sprachen (darunter über 100 Gebärdensprachen) zum gratis Download zur Verfügung stehen. (Foto 2)
Zur besseren Vorstellung: jw.org ist in weit mehr Sprachen verfügbar als die Websites von Wikipedia, Apple und Google (Suchseite) zusammengenommen.
Auch wenn Jehovas Zeugen in Österreich erst seit 2009 offiziell als Religionsgemeinschaft anerkannt sind, reicht ihre Geschichte schon mehr als 100 Jahre zurück.
Wie nahm in Kärnten alles seinen Anfang?
Wir schreiben das Jahr 1922. Der junge Buchhalter Franz Ganster aus Klagenfurt unterhält einen intensiven Briefwechsel mit einem „Bibelforscher“ (so wurden Jehovas Zeugen anfänglich genannt) aus der Schweiz, um Briefmarken und Ansichtskarten zu tauschen. Schon bald geht ihre Korrespondenz weit über das Thema Briefmarken hinaus. So kommt Franz mit der Botschaft der Bibel in Berührung, die sein Leben nachhaltig verändert.
Bald darauf erhält er eine Postkarte aus Wien mit der Bitte, den größten Saal in Klagenfurt für einen Vortrag anzumieten. Der Besitzer des Hotels Sandwirt schlägt Franz vor, Tische und Stühle im Saal aufzustellen, „damit es voller aussieht, denn es werden ja sicherlich nur wenige Leute kommen“. Doch Franz bleibt dabei: nur Bestuhlung. Zur Überraschung des Hotelbesitzers wird der Saal mit ca. 2.000 Besuchern mehr als voll.
Unter den Anwesenden ist der 20-jährige Richard Heide mit seiner Schwester Therese und seinem Vater. Richard ist von dem, was er hört, begeistert. Schon kurze Zeit später werden die ersten Gottesdienste in seiner Wohnung abgehalten.
Noch im gleichen Jahr überreicht der Spittaler Ernst Korner seinem Bruder ein von den Bibelforschern herausgegebenes Traktat und meint: „Das ist etwas für Dich, Ludwig“. Tatsächlich ist Ludwig von dem Inhalt so fasziniert, dass er weitere Literatur bei der Bibelgesellschaft in Magdeburg bestellt.
Im Juli 1922 sind Franz Ganster und das Ehepaar Heide mit den Kindern Richard und Therese unter den ersten Kärntner Bibelforschern, die sich im Wörthersee taufen lassen. Die Taufe von Ludwig Korner folgt 1923. (Fotos 3,4,5)
Die Geschichte der Glaubensgemeinschaft in Kärnten wäre unvollständig, würde man das dunkle Kapitel der NS-Zeit ausklammern. Aufgrund ihrer christlichen Neutralität verweigern Jehovas Zeugen im gesamten Deutschen Reich von Anfang an konsequent und geschlossen den Hitlergruß, den Wehrdienst sowie jegliche Arbeit in der Rüstungsindustrie.
Die Folgen: Repressalien, Entlassungen, Verbote, Verhaftungen, Überstellung in Konzentrationslager. Mindestens 16 Kärntner Zeugen Jehovas lassen für ihre Überzeugung ihr Leben.
Kinder werden per Gerichtsbeschluss von ihren Eltern getrennt. So entzieht man z.B. Richard Heide im Jahr 1942 das Sorgerecht für seinen Sohn Gerhard mit folgender Begründung: „Es ist gefährlich, Gerhard in der Obhut seines Vaters, der ein Bibelforscher ist, zu belassen, da er seinem Sohn verbietet, den Hitlergruß zu leisten und die Lieder der Nation zu singen“.
Gerhard Heide landet im Kinderland-Verschickungslager Lienz, wo er bis Kriegsende zur „Umerziehung“ bleiben muss. Umerziehung im Sinne der NS-Ideologie bedeutet, die so genannte „arische“ Jugend unter Anwendung aller Mittel zu „rassenbewussten Volksgenossen“ zu formen. Im Fall von Gerhard und den Kindern vieler anderer Zeugen Jehovas bleibt dieser Versuch jedoch erfolglos. Ihr Beispiel zeigt: Schon Kinder können mutig für ihren Glauben einstehen.
Im Mai 1945 sind der Krieg und die NS-Herrschaft in Kärnten Vergangenheit. Inhaftierte Zeugen Jehovas kehren aus den Lagern und Gefängnissen zurück. Auch die Familie Heide ist endlich wieder vereint.
Weder jahrelange heftige Verfolgung noch gesellschaftliche Veränderungen konnten das Engagement, mit dem Jehovas Zeugen anderen die Bibel näherbringen, ausbremsen.
Ab Juli 1945 werden wieder öffentliche Gottesdienste in Klagenfurt abgehalten.
Trotz wirtschaftlicher Schwierigkeiten in den Nachkriegsjahren machen sich die Kärntner Zeugen an den Wiederaufbau ihrer Anbetungsstätten („Königreichsäle“) und organisieren in den nächsten Jahrzehnten regelmäßig größere Tagungen, teilweise mit internationaler Prägung.
Die blühenden Gemeinden von Jehovas Zeugen in Kärnten (derzeit 35) führen ihren Zusammenhalt und ihr Wachstum nicht zuletzt auf die starken Wurzeln zurück, die sie in ihrer bewegten 100-jährigen Geschichte ausgebildet haben.
Am globalen Zeitstrahl beginnt die Geschichte von Jehovas Zeugen allerdings noch früher, nämlich in den 1870er Jahren. Mehr dazu in
„Einblicke, Teil 2: Jehovas Zeugen – Bis zum entferntesten Teil der Erde“.





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