Umweltschutz
Umstrittenes Renaturierungsgesetz in Kraft getreten
Nach jahrelangen Verhandlungen ist am Sonntag, 18. August 2024, das europäische Renaturierungsgesetz in Kraft getreten. Dieses Gesetz ist das bislang umfassendste Vorhaben der EU, um der Natur in ihren Mitgliedsstaaten zu einer Rückkehr zu verhelfen. Laut Forscher wäre ein Viertel Europas renaturierbar.
ÖSTERREICH. Das Renaturierungsgesetz basiert auf der Erkenntnis, dass der bloße Schutz der verbliebenen Naturflächen nicht ausreicht, um das Artensterben und den Verlust von Ökosystemen aufzuhalten. Stattdessen sollen die Staaten aktiv Maßnahmen ergreifen, um Lebensräume wie Moore, Wälder und Agrarlandschaften so zu regenerieren, dass sie für Pflanzen und Tiere wieder lebensfreundlich sind und gleichzeitig ihre wichtigen ökologischen Funktionen im Dienste der Menschen erfüllen. Dazu gehört unter anderem, dass Insekten wieder bestäuben, Auen Hochwasser speichern und Wälder mehr Kohlenstoff binden können.
Rund 117 Millionen Hektar renaturierbar
Welche Regionen Europas für derartige Schutz- und Renaturierungsmaßnahmen überhaupt infrage kämen, haben zwei portugiesischen Biodiversitätsforscher in der aktuellen Ausgabe des Fachjournals „Current Biology“ publiziert. Demnach ist knapp ein Viertel Europas renaturierbar. Die Forscher kamen auf eine gesamte Fläche von rund 117 Millionen Hektar, die in Europa für umfangreiche Renaturierungsmaßnahmen infrage kämen. Das entspricht knapp einem Viertel des gesamten Kontinents, wobei Weißrussland, Moldawien, Russland, die Ukraine und die Türkei in der Analyse nicht berücksichtigt wurden.
Bei den als geeignet eingestuften Flächen handelt es sich beispielsweise um Gebiete, die früher bewirtschaftet wurden, mittlerweile aber verlassen sind, oder wo der Mensch ohnehin kaum tätig ist, rund 70 Prozent der Flächen liegen im Norden Europas bzw. in Skandinavien. In Österreich, wo viel Fläche in privatem Besitz ist, müsse man die privaten Landbesitzer davon zu überzeugen, der Natur wieder mehr Raum zu geben – entweder weil sie die dortigen Tier- und Pflanzenarten aus eigenem Interesse schützen wollen oder aber auch mit entsprechenden Subventionen und finanziellen Anreizen.
Kernpunkte des Renaturierungsgesetzes
Die EU-Mitgliedstaaten sind verpflichtet, bis 2050 Maßnahmen zur Wiederherstellung nahezu aller geschädigten Ökosysteme auf ihrem jeweiligen Staatsgebiet umzusetzen. Dabei werden alle Lebensraumtypen einbezogen – von Wäldern über Moore bis hin zu Seen, Flüssen und Meeren. Ein Stufenplan sieht vor, dass bis 2030 in mindestens 30 Prozent der Ökosysteme mit Renaturierungsmaßnahmen begonnen wird, was etwa 20 Prozent der gesamten EU-Fläche entspricht. Bis 2040 sollen 60 Prozent und bis 2050 90 Prozent der geschädigten Ökosysteme renaturiert sein. Diese Maßnahmen tragen zudem zur Erreichung weiterer EU-Ziele bei, wie etwa das Pflanzen von drei Milliarden Bäumen bis 2030 und die Schaffung von 25.000 Kilometern frei fließender Flüsse.
Warum ist Renaturierung notwendig?
In den letzten Jahrzehnten hat sich der Verlust von Lebensräumen und der darin lebenden Arten weltweit stark beschleunigt. In der EU sind mittlerweile über 80 Prozent der Lebensräume in einem schlechten Zustand, was viele Tier- und Pflanzenarten an den Rand des Aussterbens bringt. Dies hat auch direkte Auswirkungen auf den Menschen: Begradigte Flüsse bieten keinen ausreichenden Hochwasserschutz mehr, kranke Wälder setzen Treibhausgase frei anstatt sie zu speichern, und der Rückgang bestäubender Insekten bedroht die Lebensmittelproduktion. Schon jetzt leiden 50 Prozent der in der EU auf Bestäubung angewiesenen Nutzpflanzen unter einem Rückgang der Erträge. Aus diesem Grund findet das Renaturierungsgesetz große Unterstützung in der Wissenschaft und sogar bei konservativen Verbänden wie dem europäischen Jagdverband FACE und der Windenergiebranche.
Warum ist das Renaturierungsgesetz mehr als klassischer Umweltschutz?
Die EU-Kommission orientiert sich am Bericht des Weltbiodiversitätsrates, der zu dem Schluss kommt, dass der reine Schutz verbliebener Naturflächen nicht ausreicht, um den Artenverlust zu stoppen. Auch die Staatengemeinschaft hatte sich auf der Weltnaturkonferenz in Montreal auf das Doppelziel geeinigt, 30 Prozent der Erde zu schützen und auf weiteren 30 Prozent Renaturierungsmaßnahmen durchzuführen. Im Gegensatz zu den Montrealer Beschlüssen ist das Renaturierungsgesetz der EU jedoch verbindlich für alle Mitgliedstaaten und muss nicht von nationalen Parlamenten ratifiziert werden. Es ist weltweit das erste Gesetz, das eine gesamte Staatengemeinschaft verpflichtet, nicht nur Natur zu bewahren, sondern auch zerstörte Ökosysteme wiederherzustellen.
Was bedeutet das Gesetz für landwirtschaftlich genutzte Flächen?
Ein großer Teil der ehemaligen Naturlandschaften Europas wird heute für Land- und Forstwirtschaft genutzt, und auch diese Flächen fallen unter das Gesetz. Besonders relevant ist dies, da ein erheblicher Teil der Landwirtschaft auf entwässerten Moorböden betrieben wird – in Deutschland betrifft das etwa zehn Prozent der Flächen. Bis 2030 sollen Renaturierungsmaßnahmen auf 30 Prozent der entwässerten Moore starten, insbesondere durch Wiedervernässung, die auf einem Viertel dieser Flächen durchgeführt werden soll. Bis 2050 soll die Hälfte aller trockengelegten Moorflächen renaturiert sein, wobei ein Drittel durch das Versiegeln von Entwässerungseinrichtungen wiedervernässt werden soll. Wiedervernässung ist die effektivste Methode, um die Artenvielfalt auf Mooren zu fördern und den Ausstoß von Treibhausgasen aus trockenen Böden zu stoppen.
Doch die Wiedervernässung bedeutet nicht zwangsläufig das Ende der landwirtschaftlichen Nutzung. Auch Äcker, die nicht auf ehemaligen Mooren liegen, werden renaturiert, beispielsweise durch das Anlegen von Hecken, Gebüschen, Bäumen oder kleinen Grünlandinseln, die die Artenvielfalt fördern und die Kohlenstoffspeicherung im Boden verbessern sollen.
Wurden Zugeständnisse an die Landwirtschaft gemacht?
Die Renaturierung von landwirtschaftlich genutzten Flächen war ein besonders umstrittener Punkt des Gesetzes. Deshalb wurde festgelegt, dass Landwirte nicht zur Teilnahme an Wiedervernässungsprogrammen verpflichtet werden können. Stattdessen sind finanzielle Anreize für die freiwillige Teilnahme geplant. Zudem dürfen die Mitgliedstaaten bei der Renaturierung zuerst jene Gebiete priorisieren, die bereits Teil des europäischen Schutzgebietsnetzes Natura 2000 sind, wo ohnehin schon Nutzungsbeschränkungen gelten. Das Gesetz enthält außerdem eine Art Notfallregelung, wonach Biodiversitätsziele dann nicht eingehalten werden müssen, wenn dadurch gravierende Ertragseinbußen drohen.
Das Renaturierungsgesetz in Kürze:
- Das am 18. August 2024 in Kraft getretene EU-Renaturierungsgesetz ist ein ambitioniertes Vorhaben, das weit über den bisherigen Umweltschutz hinausgeht.
- Es verpflichtet die EU-Staaten, bis 2050 fast alle geschädigten Ökosysteme wiederherzustellen, darunter Wälder, Moore und Agrarlandschaften.
- Ziel ist es, das Artensterben zu stoppen und die ökologischen Funktionen der Natur wiederherzustellen.
- Während das Gesetz von Wissenschaft und konservativen Verbänden unterstützt wird, enthält es Zugeständnisse an die Landwirtschaft, wie freiwillige Maßnahmen und finanzielle Anreize.
- Das Gesetz gilt als weltweit erste verbindliche Regelung dieser Art für eine Staatengemeinschaft.
- Ein Viertel Europas ist laut Stuidie renaturierbar.
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