Krieg in der Ukraine
So steht es um die ukrainischen Atomkraftwerke
BEZIRK | STADT KORNEUBURG | UKRAINE. Was niemand für möglich hielt, ist nun bittere Realität – der Krieg in der Ukraine. Wie es um die ukrainischen Atomkraftwerke bestellt ist, was passiert, wenn eines davon bei Kampfhandlungen getroffen wird und ob es in Österreich Grund zur Sorge gibt, erklärt Oberst Jürgen Schlechter, Leiter des ABC-Abwehrzentrums Korneuburg. Er ist Experte in Sachen atomarer, biologischer und chemischer Gefahren.
Welche Atomkraftwerke betreibt die Ukraine?
Jürgen Schlechter:In der Ukraine laufen 15 Druckwasserreaktoren an vier Standorten – Chmelnyzkyi, Riwne, Süd-Ukraine und Saporischschja. Diese Reaktoren produzieren mehr als 50 Prozent des Gesamtstroms des Landes, zwei weitere Reaktoren sind in Bau. Zur Zeit sind neun von 15 Leistungsreaktoren am Netz, die Stromversorgung ist stabil.
In welchem Zustand befinden sich die Atomkraftwerke?
Am Standort Tschernobyl sind inzwischen alle Reaktoren stillgelegt. Das staatliche Messnetz der Ortsdosisleistung in der Sperrzone von Tschernobyl ist nicht mehr online verfügbar. In der Hauptstadt Kiew befinden sich ein Forschungsreaktor. Lauf Chef der Internationalen Atomenergie-Behörde IAEA, Rafael Grossi, ist die Betriebssicherheit der 15 aktiven AKWs gewährleistet.
Zwei Lager für leicht- und mittelradioaktive Abfälle, bei Kiew und bei Charkiw, waren von Kampfhandlungen betroffen. Radioaktive Stoffe wurden dabei nicht freigesetzt. Eine beabsichtigte Freisetzung durch den gezielten Beschuss eines Reaktors gilt als unwahrscheinlich.
Können ukrainische Atomkraftwerke durch Kampfhandlungen – auch nur unabsichtlich – derart beschädigt werden, dass es zu einem Super-GAU kommt?
Die Atomkraftwerke sind mit mehreren Sicherheitssystemen ausgestattet, die sie vor Erdbeben, Sabotage, Flugzeugabstürzen oder auch vor Kampfhandlungen schützen sollen. Mit Schnellabschalt- und Notkühlsystemen will man Reaktorunfälle beherrschen – auch einen GAU, den größten anzunehmenden Unfall.
Die rechnerische Wahrscheinlichkeit, dass es zu einer Kernschmelze und zu einer schnellen Zerstörung des Containments kommt, ist sehr gering. Damit ist die technisch gasdichte und druckfeste Umhüllung um einen Kernreaktor gemeint, damit auch nach einem Störfall keine radioaktiven Stoffe unkontrolliert in die Atmosphäre oder die Umgebung ausweichen können. Allerdings haben die Reaktoren 1 und 2 in Riwne kein Containment, sondern ein Druckabbausystem, das gegenüber Einflüssen von außen nur wenig Schutz bietet. Rein technisch würden diese beiden Reaktorblöcke das höchste Gefährdungspotenzial aufweisen, aufgrund ihres Standortes ist eine Gefährdung allerdings als gering einzuschätzen.
Sonderfall "Tschernobyl": wer betreut nun den neuen, Ende 2016 in Betrieb genommenen Sakrophag?
Im Falle der Zerstörung der Schutzhülle könnte es zu einer geringen, lokal begrenzten Freisetzung von radioaktiven Stoffen kommen. Der derzeit leicht erhöhte Strahlungswert wurde vermutlich durch die intensiven Verkehrsbewegungen in der Umgebung des Reaktors verursacht.
Die National Nuclear Energy Generating Company Energoatom, ein ukrainisches Staatsunternehmen, ist mit dem Betrieb aller ukrainischen Kernkraftwerke betraut und für die Entsorgung des Atommülls verantwortlich. Die Strahlenwerte wurden durch die ukrainische Atomenergiebehörde kontrolliert. Der Zugang zu dem 30 km rund um den havarierten Reaktor befindlichen Sperrgebiet wurde von der ukrainischen Miliz kontrolliert und war nur mit Genehmigung gestattet.
Können die Russen mit der westlichen Technologie umgehen?
Am 24. Februar 2022 haben die ukrainischen Verantwortlichen nach mehrstündigen Schusswechseln die Kontrolle über das Gebiet um Tschernobyl und alle Anlagen verloren. Da es sich bei der Schutzhülle, dem "New Safe Confinement" oder "NSC", um eine fixe Installation handelt, kann davon ausgegangen werden, dass russische Atomexperten die Kontrolle übernehmen können.
Sollte es bei Kampfhandlungen rund um ukrainische AKW zu einem Reaktorbrand kommen – wie schnell wäre die österreichische Bevölkerung informiert beziehungsweise alarmiert?
Es gibt ein Meldesystem der Internationalen Atomenergie-Organisation IAEA, wonach Störfälle in AKWs unverzüglich gemeldet werden. Bis zu einem Eintreffen eines allfälligen radioaktiven Niederschlages ist mit ausreichender Vorwarnzeit zu rechnen. Die Information der österreichischen Bevölkerung erfolgt durch die österreichischen Medien und die SmartphoneApp KatWarn.
Welche Rolle spielen die ABC-Experten des Bundesheeres im Falle einer Reaktorkatastrophe?
Die ABC-Experten des Österreichischen Bundesheeres informieren und beraten die politische und militärische Führung in allen Ebenen über die aktuellen Entwicklungen. Dazu erstellen sie auch Prognosen über den radioaktiven Fallout, über allfällig zu treffende Vorsorgemaßnahmen und über Einsatz- und Unterstützungsmöglichkeiten des Bundesheeres im Anlassfall.
Welche Fähigkeiten und welche Ausrüstung haben die ABC-Spezialisten des Bundesheeres, um der Bevölkerung bei einer derartigen Katastrophe helfen zu können?
Die ABC-Abwehr des Bundesheeres verfügt über ein Vorhersagesystem, das die mögliche Ausbreitung von radioaktiven Wolken prognostiziert. Die ABC-Abwehr ist weiters mit Geräten zur Detektion (Feststellung und Probenahme) und Dekontamination ausgestattet. Darüber hinaus haben alle Soldaten eine persönliche ABC-Schutzausrüstung, um die Erhaltung der Einsatzbereitschaft sicherzustellen.
Zusätzlich kann die ABC-Abwehr bei Bedarf eine Versorgung mit. gereinigtem Wasser sicherstellen. Weiters unterstützt das Österreichische Bundesheer bei Maßnahmen zur Evakuierung, zu Proben- und sonstigen Transporten sowie zur allgemeinen Versorgung der Bevölkerung.
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