Essstörungen / Psychologie / Übergewicht
Erste Hilfe bei Binge-Eating/Essanfällen
Was ist Binge-Eating?
Beim Binge-Eating handelt es sich um wiederholte Essanfälle, die als unfreiwillig erlebt werden. Die betroffenen Personen nehmen dabei gewaltige Mengen an Nahrung zu sich (etwa mehrere Torten), führen aber – im Gegensatz zur Essstörung der Bulimie – kein Erbrechen herbei. Beim Binge-Eating handelt es sich um eine Essstörung, welche zur Folge hat, dass die betroffenen Menschen schnell an Gewicht zunehmen. Die Menschen erleben sich als dem Essanfall ausgeliefert, wie unter einem inneren, gigantischen Zwang, große Mengen an Essen in sich hineinzustopfen und die Kontrolle über das Essverhalten (was und wie viel ich esse) zu verlieren. Danach fühlen die davon betroffenen Personen meist Scham, Selbstekel, schwere Schuldgefühle, Depressionen oder Selbsthass.
Erfahren Sie in diesem Beitrag Tipps, was Ihnen als Erste Hilfe helfen kann, gut mit sich selbst umzugehen, wenn der Essanfall zu Besuch ist.
Film: "Binge-Eating-Störung: Wenn die Esssucht das Leben bestimmt"
Kennzeichen von Essanfällen sind:
- Die betroffenen Personen essen während der Essanfälle schneller und unachtsamer als sie das normalerweise tun, wenn sie das Essen mehr genießen.
- Die Betroffenen stoppen ihren Essanfall erst dann, wenn sie sich unangenehm voll fühlen, also lange nach dem Sättigungsgefühl.
- Die Essanfälle kommen auch dann zu Besuch, wenn die Menschen keinen Hunger oder Appetit haben.
- Die betroffenen Personen schämen sich dabei sosehr, sodass sie alleine sind und verheimlichen ihre Essattacken vor ihren Mitmenschen.
- Menschen leiden unter ihrer Binge-Eating-Störung und greifen nur selten zu hilfreichen Mitteln wie Bewegung und Sport.
Wie kann ich Essanfälle behandeln oder vermeiden?
Es gibt zahlreiche wirkungsvolle verhaltenstherapeutische Methoden, mit denen sich diese Essstörung gut behandeln lässt, etwa:
- genussvolles Essen zu lernen
- Wochenpläne zu machen
- auf Diäten zu verzichten
- sich bewusst Süßes und „Verbotenes“ zu gönnen
- regelmäßig kleine Mengen an Nahrung zu sich zu nehmen
- ein gesundes Essverhalten zu trainieren
- Sport und Bewegung zu machen
- rigide Ernährungsregeln aufzugeben
- freundlicher mit sich selbst umzugehen
- angenehmen und belohnenden Aktivitäten nachzugehen
- eine positive Selbstfürsorge zu entwickeln
- Hilfreich kann es auch sein, sich fünf Minuten lange vor den Kühlschrank zu stellen und sich zu sagen "Gleich lass ich mich von meinen Impulsen versklaven, oder nicht?". Wichtig ist hierbei, dass sie Ihre Hände ausstrecken und die Handflächen nach außen richten. Dies aktiviert und bahnt nämlich Kompetenzen der Abgrenzung und der Autonomie und gibt uns das Gefühl, mehr inneren Raum zu haben, sodass wir besser mit unseren Impulsen umzugehen vermögen. Diese Methode aus dem Embodiment, genannt "Handflächenparadigma", verdanke ich dem Hypnosystemiker Gunther Schmidt. Eine andere Körperhaltung und körperliche Musterunterbrechung kann uns somit unterstützen, weniger oder bewusster zu essen.
Freiwillige Essanfälle
Die Existentielle Schienung: Wenn ich freiwillig dem Essanfall vorausgehe
Wenn alle Stricke reißen, dann gibt es auch noch folgende Möglichkeit: Ich erlaube mir den Essanfall, esse also freiwillig große Mengen und akzeptiere mich dabei so, wie ich bin. Bevor der Druck zu essen so stark wird, dass ich ihm nachgeben muss und ich mich total ausgeliefert fühle, tue ich es lieber mit innerer Zustimmung. Ich kann einen Essanfall auch freiwillig tun und nehme ihm dadurch den Charakter der Sucht bzw. des inneren Zwangs. Ich motiviere mich dabei mit innerer Einsicht selbst, ganz große Mengen zu essen.
Der Grund dieser Freiwilligkeit ist, dass ich dabei eine liebevolle, selbstannehmende Haltung üben kann, die ja gerade bei Menschen, die unter der Binge-Eating-Störung leiden, in der Regel fehlt. Ich stärke dabei die Beziehung zu mir selbst, halte meine innere Freiheit aufrecht und mache dabei die Erfahrung von Selbstwirksamkeit. Ich begebe mich aus der Opferrolle meiner Essanfälle und kann sogar mit den Symptomen spielen.
Selbstdistanzierung und Selbstwirksamkeit beim Essen
Es handelt sich hierbei um eine Form von Selbstdistanzierung, um dem Aufschaukeln der Essattacken entgegenzuwirken. Dabei erlebe ich weniger Versagen, Enttäuschung und Depressivität, sondern ein Mehr an innerer Freiheit und Distanz zu meinem Symptom, dem Binge-Eating.
Einerseits geht es um das Aushalten des Hungers und der Impulse, dem Heißhunger nachzugeben, andererseits führe ich den Essanfall freiwillig durch. Dieser Wechselschritt kann mir helfen, besser und gestärkter mit mir selbst umzugehen, und mein Lebensraum wird dadurch geweitet. Ich erlebe dann innere personale Freiheit trotz des Zwanges bzw. der Sucht, zu essen.
In der Existenzanalyse gibt es das Motto: „Ich soll nicht mehr tun, als ich kann“. Dann esse ich halt eine ganze Malakofftorte und dann noch einen Kuchen, aber ich tue es mit innerer Zustimmung, mache es mir dabei schön, zünde mir etwa eine Kerze an, sorge für eine angenehme Atmosphäre während des Essens.
Paradoxe Essanfälle und Harm Reduction
Ich nehme dabei mein Binge-Eating als ein Symptom an, das ich heute, in dieser Stunde, dringend brauche und das manchmal auch einen schicksalhaften Charakter hat. Dabei handelt es sich um „Harm Reduction“, also um eine Verminderung des Leides und der inneren Not. Dieses paradoxe Vorgehen ist immerhin besser als mich unfreiwillig der Essattacke hinzugeben und auszuliefern und wieder einmal die Erfahrung zu machen, dass ich scheitere. Ich lasse mich, wenn ich freiwillig extrem viel esse, selbst nicht im Stich, stehe dabei zu mir und zu meinem Heißhunger und nehme mich jetzt, in diesem Moment, einmal so an, wie ich bin. Das muss ich nicht mögen, aber ich kann versuchen, mich radikal zu akzeptieren.
Existentiell und für das Leben gesehen ist es wichtiger, sich nicht im Stich zu lassen und zu mir zu stehen, als keinen Essanfall zu haben.
Der Ablauf eines freiwilligen Essanfalls kann folgender sein:
- Ich beuge dem Rückfall vor, indem ich dem Binge-Eating freiwillig vorweggehe. Ich lebe den Heißhunger mit innerer Zustimmung aus, anstatt dass ich dadurch gezwungen werde. Ich achte allerdings dabei, wie ich den Essanfall erlebe und übe, mich dabei selbst anzunehmen und mir die innere Zustimmung zu geben. Das Ganze kann wie ein Urlaub vom innerlich-gegen-sich-selbst-Ankämpfen sein. Ich achte dabei aber trotzdem genau auf meinen Körper, meinen Hunger, und erlebe mein Binge-Eating solange, bis es ekelhaft, schmerzhaft oder uninteressant wird.
- Der zweite Schritt (dieser sollte an einem anderen Tag sein), ist ein bewusstes Dagegenhalten gegen das Essen. Ich versuche es, solange es geht, und gebe dem Binge-Eating nicht nach. Ich erlebe dieses Opponieren ganz bewusst und beobachte mich mit innerer Distanz: Was tut sich da in mir?
- Wenn ich es nicht mehr aushalte, dann verschreibe ich mir wieder freiwillig mein Symptom, den Essanfall.
Autor: Florian Friedrich
Psychotherapeut in Hamburg / Salzburg
(Logotherapie und Existenzanalyse)
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