WARUM gabst du uns die tiefen Blicke ...

- hochgeladen von Hildegard Stauder
WARUM gabst du uns die TIEFE BLICKE,
unsre Zukunft ahndungsvoll zu schaun;
unsre LIEBE, unserm ERDENGLÜCKE
wähnend selig nimmer hinzutraun?
Warum gabst uns SCHICKSAL,
die GEFÜHLE, UNS EINANDER IN DAS HERZ ZU SEHN,
und durch all die seltenen Gewühle
unser wahr VERHÄLTNIS auszuspähn?
Ach, so viele tausend Menschen kennen
dumpf sich treibend, kaum ihr eigen HERZ;
schweben zwecklos hin und her und rennen
hoffnungslos in unversehnem SCHMERZ.
Jauchzen wieder, wenn der schnellen Freuden
unerwart'te Morgenröte tagt!
Nur uns armen, liebevollen beiden
ist das wechselseit'ge Glück versagt.
Uns zu lieben, ohn uns zu verstehen;
in dem andern sehn, was er nie wahr.
Immer frisch auf Traumglück auszugehen
und zu schwanken, auch in Traumgefahr.
Glücklich, den ein leerer Traum beschäftigt.
Glücklich, dem die Ahndung eitel wär.
Jede Gegenwart und jeder Blick bekräftigt;
Traum und Ahndung leider uns noch mehr.
Sag, was will das Schicksal uns bereiten?
Sag, wie band es uns so rein genau?
Ach, du warst in abgelebten Zeiten
meine Schwester, oder meine Frau!
Kanntest jeden Zug in meinem Wesen.
Spähtest, wie die reinste Nerve klingt.
Konntest mich mit EINEM BLICK lesen,
den so schwer ein sterblich Aug durchdringt!
Tropftest Mäßigung DEM HEIßEN BLUTE;
richtest den wilden, irren Lauf
und in deinen Engelsarmen
ruhte die zerstörte Brust sich wieder auf.
Hieltest zauberleicht ihn angebunden
und vergaukeltest ihm manchen Tag.
Welche Seligkeit glich jenen Wonnestunden,
da er dankbar dir zu Füßen lag.
Fühlt' sein Herz an deinem Herzen schwellen;
fühlte sich in deinem Auge gut.
Alle seine Sinnen sich erhellen
und beruhigen sein brausend Blut!
Und von allem dem schwindet ein Erinnern,
nur noch um das ungewisse Herz;
fühlt die alte Wahrheit ewig gleich im Innern,
und der neue Zustand wird ihm Schmerz.
Und wir scheinen uns nur halb beseeltet;
dämmernd ist um uns der hellste Tag.
Glücklich, dass das Schicksal, das uns quälet
uns doch nicht verändern mag!
Johann Wolfgang von Goethe
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