Männer und Frauen sind "anders" krank
Zeit, Medizin neu zu denken

- Jahrelang wurde nur die männliche Seite in der Medizin betrachtet. Doch es gibt biologische Unterschiede.
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Das Geschlecht hat einen Einfluss auf Gesundheit und Krankheit. Die in Villach lebende Ärztin Eva Ornella beschäftigt sich intensiv mit der sogenannten „Gendermedizin“.
VILLACH. Wobei sie den deutschen Begriff etwas unglücklich gewählt findet. „Eigentlich müsste es geschlechtsspezifische Medizin heißen. Das heißt, Gendermedizin ist keine "Frauenmedizin" sondern beschäftigt sich mit dem Einfluss des Geschlechts auf Gesundheit und Krankheit. Das ist insofern relevant da Frauen und Männer biologisch nicht gleich sind.“ Die Forschung zum Thema geschlechtsspezifische Medizin gibt es seit rund 30 Jahren, „aber leider haben die Erkenntnisse immer noch kaum Einzug in den täglichen medizinischen Alltag gefunden. Wir in Kärnten nehmen hier eine Vorreiterposition ein und ab 2024 soll ein Lehrgang für Gendermedizin helfen, die Aufmerksamkeit für Ärztinnen und Ärzte für dieses so wichtige Thema zu verbessern und in weiterer Folge natürlich auch die Bereitschaft, das gelernte Wissen in der täglichen Praxis anzuwenden“, sagt Ornella.
Weiblicher Herzinfarkt
Bei den typischen Krankheit, die bei den Geschlechtern verschieden verlaufen ist der Herzinfarkt das beste Beispiel: „Die typischen Symptome, die wir kennen, sind der Brustschmerz verbunden mit einem thorakalen Engegefühl mit Ausstrahlung in den linken Arm. Mittlerweile wissen wir jedoch, dass diese Symptome hauptsächlich auf männliche Patienten zutrifft. Die Beschwerdesymptomatik der Frauen - Übelkeit, Erbrechen, Schwäche mit Leistungsminderung, plötzlicher Schweißausbruch, Schmerzen im Oberbauch, Kiefer oder Nacken - wird häufig als „atypisch“ bezeichnet, weil sie eben nicht diesem klassischen Bild entspricht.“ Diese Unterschiede im klinischen Erscheinungsbild zwischen Männern und Frauen gäbe es bei vielen Erkrankungen und ist Bestandteil der Gendermedizin.
Medikamente nur für Männer
Auch wurden viele Medikamente jahrelang nur an Männern erforscht, weil der weibliche Körper mit dem Zyklus und den weiblichen Sexualhormonen zu kompliziert für die Forschung erschien und in weiterer Folge Frauen als Testpersonen als zu kostspielig galten, so Ornella. „Das ging soweit, das selbst bei Tierversuchen nur männliche Ratten verwendet wurden. Jahrzehntelang wurden also Frauen mit Medikamenten und Dosierungen behandelt, die nur an Männern erforscht und getestet wurden. Das ist mit ein Grund, warum Frauen fast doppelt so häufig an Medikamentennebenwirkungen leiden als Männer.“
Studien
Seit 2004 ist es in Deutschland verpflichtend, dass klinische Studien mögliche Unterschiede zwischen Frauen und Männern untersuchen. Seit 2008 gibt es in Österreich dafür eine Empfehlung vom Bundeskanzleramt. „In der Praxis zeigt sich aber leider, dass für viele Arzneimittelstudien die Daten für eine geschlechtsspezifische Auswertung weiterhin fehlen. Vor allem auch für Arzneimittel, die schon länger am Markt sind, gibt es kaum Daten bezüglich geschlechtsspezifischer Wirksamkeit.“
Unterschiede bei Darmkrebs
Die Geschlechtshormone Östrogen und Testosteron haben ebenfalls einen großen Einfluss auf Krankheitsbild und Krankheitsverlauf und müssen daher in Diagnose und Behandlung viel mehr berücksichtigt werden. Ornella: „Beim Darmkrebs etwa spielt das weibliche Geschlechtshormon Östrogen eine wichtige Rolle. Östrogen schützt Frauen, bis zu einem gewissen Grad, sehr lange vor der Entstehung von Dickdarmkrebs. Deshalb ist es zum Beispiel auch wichtig bei der Vorsorgekoloskopie zu differenzieren. Frauen profitieren davon, wenn man das Intervall verlängert, Männer profitieren davon, wenn man die Vorsorgekoloskopie schon früher durchführt.“
Medizin bisher eher „für den Mann“ gedacht?
Ornella: "Ja und das hat vor allem historische Gründe. Angefangen von Leonardo da Vincis "vitruvianischer Mensch", der der perfekten Mensch darstellt und wenig überraschend ein Mann ist, entwickelte sich die klinische Medizin gegen Ende des 18. Jahrhunderts. Eine der ersten kontrollierten Studien wurde 1747 während einer Schiffsreise mit dem Versuch zur Heilung von Skorbut durchgeführt. Der britische Schiffsarzt James Lind wählte zwölf Seeleute mit typischen Symptomen und bildete sechs Gruppen mit jeweils zwei Personen, welche unterschiedliche Diäten erhielten. Als einzige wieder gesund wurden die Vertreter der „Zitrusgruppe" welche jeden Tag zwei Orangen und eine Zitrone aßen. Das war die erste publizierte Vergleichsstudie und gleichzeitig der Beginn der Vitaminforschung. Trotzdem sollte es noch 42 Jahre dauern, bis die „Zitrustherapie" seitens der britischen Marine offiziell eingeführt wurde. Die Versuchspersonen, allesamt Seeleute, natürlich männlich. Das ist die Geschichte, der ersten kontrollierten Studie durch einen männlichen Arzt an männlichen Probanden. Danach folgte die Zeit der "Hysterie". Die Bezeichnung „Hysterie“ stammt von dem griechischen Wort Hystera ab. Die Übersetzung lautet Gebärmutter. Zwar hat der Begriff Hysterie antike Wurzeln aber gerade Ende des 18 - Anfang des 19. Jahrhunderts stellte der männliche Körper erneute die perfekte Erscheinungsbild dar. Frauen wurden als mangelhafte kleine Männer angesehen. Viele Erkrankungen wurden auf die "Hysterie" zurückgeführt, das war ein Überbegriff für viele Krankheiten an Frauen, die man bis dato nicht verstand und die nicht auf ein somatisches (körperliches) Beschwerdebild zugeführt werden konnten. Man steckte die armen Frauen in Eisbäder und riet zur Masturbation zur Beschwerde Linderung. Andererseits ergriff man aber auch Maßnahmen wie die Klitoridektomie (chirurgische Entfernung der Klitoris) zur Beseitigung von „hysterogenen Zonen“, außerdem Hypnose, Magneten, Elektroschocks und dem besonderen zeitgenössischen Highlight der Ovarienpresse, welche Druck auf die Gebärmutter von außen ausübte, um die Patientinnen zu malträtieren." Erst 1904 schloss die erste Frau ihr Medizinstudium an der Universität Wien in Österreich ab. Aber es liegt noch ein langer Weg vor uns, obwohl heute mehr als 65% der MedizinstudentInnen weiblich sind, besetzt später nur jede zehnte leitende Position eine Frau.
Wie kann diese Thematik künftig bei Diagnosefragen eingebaut werden?
Das Bundesland Kärnten nimmt hier auch eine Vorreiterrolle ein, da es österreichweit die erste Modellregion für Gendermedizin ist. So werden beispielsweise laufend Vorträge abgehalten, welche die Bevölkerung sensibilieren sollen. Ornella: "Wir erarbeiten derzeit auch intensiv Aus- und Fortbildungen, um die MitarbeiterInnen auf das Thema aufmerksam zu machen."


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