Corona philosophisch betrachtet
Das Virus und die Distanz

- Cornelia Bruell im philosophischen Interview am Bildschirm
- Foto: privat
- hochgeladen von Gabriela Stockmann
BEZIRKSBLÄTTER: Verwundet Corona unser Selbstverständnis als westliche-zivilisierte-sichere Gesellschaft? Ähnlich wie 9/11?
DR.IN CORNELIA BRUELL: Es ist schon anders als bei 9/11. Das war abgesehen von der Grausamkeit so einschneidend, weil es ein Land traf, das territorial fast unangreifbar war (mit der Ausnahme von Pearl Harbor). Europa und die meisten anderen Staaten sind anders gelegen und haben historisch gesehen hier schon mehr durchgemacht, was die Angreifbarkeit der Grenzen betrifft. Das Unheimliche allerdings ist, dass dieser Virus ein unbekannter Feind ist, dessen Funktionsweise wir noch nicht ganz durchschaut haben.Das ist auch bei vielen Menschen spürbar, die alles versuchen, an Information in die Hände zu bekommen, was sie kriegen können. Wir fühlen uns ausgeliefert, da wir noch keine adäquaten Mittel der Gegenwehr gefunden haben.
Die getroffenen Maßnahmen verändern unsere Lebensgewohnheiten. Liegt darin auch eine Chance?
Wenn es etwas infrage stellt, dann ist es meines Erachtens unsere Art zu wirtschaften, zu konsumieren, zu arbeiten und unsere Zeit zu verbringen. Alles Dinge, die sich momentan verschieben. Prioritäten werden neu gesetzt. Der Verlust der analogen Kommunikation, das sich Gegenüberstehen, wird jetzt tatsächlich verspürt. Neu ist natürlich auch, dass ein Virus schwer als Schuldiger stigmatisiert werden kann. Wir befinden uns also hier in einer völlig anderen Situation als z.B. beim Terrorismus. Natürlich blühen daher auch Verschwörungstheorien, denn hier geht es hauptsächlich um die Identifikation von Schuldigen, um sich selbst eine gewisse Sicherheit und Kontrolle über die Lage zu konstruieren. Spannend wird bleiben, ob die verschobenen Wertmaßstäbe auch nach der Krise erhalten bleiben werden.
Müssen wir den Begriff der Grenze neu denken? Ein Virus macht ja vor politischen Grenzen und Mauern nicht Halt, auch wenn dies möglicherweise derzeit suggeriert wird.
Eigentlich wäre zu erwarten, dass wir mit der Grenzenlosigkeit der Virenübertragung auch in anderen Bereichen vernetzter und globaler denken. Ich bin mir aber nicht sicher, ob das der Fall ist. Der Nationalstaat ist immer noch das effektivste Handlungsinstrument. Wir sehen, dass wir auf dessen Handeln momentan angewiesen sind und jeder Staat versucht sich selbst zuerst zu schützen. Was außerhalb der Landesgrenzen passiert, wie zum Beispiel in den Geflüchtetenlagern in Griechenland, interessiert momentan nur wenige. Wir müssen also auch aufpassen, dass die Solidarität, die durchaus im Land stark zu spüren ist, nicht an den Grenzen halt macht, sondern dass wir etwas lernen, das unseren Begriff von Menschenwürde im Allgemeinen stärkt.
Macht uns die Allgegenwärtigkeit der Viren von sozialen Wesen zu sozial distanzierten? Was wird aus dem Begriff einer solidarischen Gemeinschaft?
Ich denke, wie gesagt, die Solidarität zum Nachbarn, den Risikogruppen, allen Betroffenen etc. ist momentan groß. Insofern stärkt es den Zusammenhalt. Was wir jetzt separieren sind Körper. Wir haben in der Menschheitsgeschichte eine lange Tradition der Leibfeindlichkeit (sowohl in der Philosophie als auch in der Religion). Die Maßnahmen jetzt könnten das noch befördern. Ich spüre das bereits beim Spazierengehen. Natürlich ist der Abstand unbedingt notwendig, aber die Präsenz des Anderen wird dennoch als eine gewisse Bedrohung empfunden. Wir können nur hoffen, dass wir uns nach der Krise einfach noch inniger umarmen als vorher und den Körper, die Nähe, den Kontakt und die Berührung vielleicht sogar mehr zu schätzen wissen als jemals zuvor.
ZUR PERSON
Mag.a Dr.in Cornelia Bruell bezeichnet sich als akademisch philosophische Praktikerin. 2016 gründete die Badenerin die Plattform www.philoskop.org und veranstaltet seither philosophische Salone, den nächsten am 18. April (19 - 21 Uhr) - nach dem großen Erfolg des ersten Online-Salons am 2. April auch diesmal wieder online (Thema: Solidarität in Corona-Zeiten). Darüberhinaus praktiziert sie Philosophieren mit Kindern.


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