"Ich bin für Toleranz und Objektivität"

Das Wohnzimmer von Wilhelm Gorton ist nobel eingerichtet. Der Altpolitiker sitzt auf einem gepolsterten Sessel und redet bedacht, in langen Sätzen und mit ruhiger Stimme. Immer wieder bittet er während des Gesprächs, das, was er gerade gesagt hat, als Hintergrundinformation zu betrachten und nicht abzudrucken. Obwohl das öfter vorkommt, fällt es ihm nicht ein, das Interview zur Autorisierung vorgelegt zu bekommen, wie es heute oft der Fall ist. Ein Politiker vom alten Schlag.

WOCHE: Sie waren jahrzehntelang in der Politik. Wie unterscheidet sich die Politik heute von der Zeit, als Sie eingestiegen sind?
Wilhelm Gorton: Der Ton ist auf viel, viel härter geworden. In meiner aktiven Zeit haben die Politiker gewisse Grenzen nie überschritten, es herrschte eine eigene Höflichkeit in der Auseinandersetzung. Das fehlt heutzutage - der raue Ton hat die ganze Politik in Verruf gebracht.

So wie auch die Korruptionsfälle, die auch Ihre Partei, die ÖVP, in Verruf gebracht haben.
Ich verfolge natürlich die politische Situation. Josef Martinz hat einen schweren Fehler gemacht, als er das Geld angenommen hat. Aber für mich ist es dennoch etwas anderes, wenn jemand Geld für die Partei nimmt, als wenn er sich selbst bereichert. Meiner Meinung nach verfolgt die Justiz jetzt Fälle, in die Politiker involviert sind, mit besonderer Härte.

Wie entwickelt sich die ÖVP ihrer Meinung nach?
Obernosterer, der Landesparteichef, hat seine Arbeit überraschend gut gemacht. Trotzdem hat er meiner Meinung nach einen Fehler gemacht, indem er in Klagenfurt Land den Rücktritt von Goritschnig gefordert hat. Er hätte ihn wenigstens an der letzten Stelle kandidieren lassen sollen.

In Ihrer Zeit als aktiver Politiker: Gab es da Momente, an die Sie sich noch oft zurückerinnern?
Anfang der 70er gab es diese ideologische Debatte zur Fristenlösung (Anm.: zum straffreien Schwangerschaftsabbruch innerhalb einer Frist). Auf die Rede meines Kollegen, des Abgeordneten Hauser hin, hat sich Bundeskanzler Kreisky selbst ans Rednerpult gestellt und sich gerechtfertigt. Das war einzigartig zur damaligen Zeit.

Welche Rollen spielen Ideologien heute in der Politik?
Es gibt fast keine Ideologien mehr und dafür interessiert sich auch kein Mensch mehr. Ich denke, die Politiker sollten sich heute wieder an die Grundwerte erinnern: Eigentum, das geschützt wird, Arbeit, die gerecht honoriert wird und an der Ehrlichkeit führt sowieso kein Weg vorbei.

Eines der Kapitel in Ihrer Karriere, durch die Sie am meisten Berühmtheit erlangt haben, war, als Sie 1985 Walter Reder (Anm.: Ein wegen des Massakers von Marzabotto verurteilter SS-Offizier) bei sich aufgenommen haben. Warum haben Sie das gemacht?
Ich hatte ihm das versprochen, dass er nach seiner Freilassung bei mir Unterkunft bekommt. Und ich bin zu meinem Wort gestanden. Außerdem hätte ich das nie getan, wenn ich nicht von seiner Unschuld überzeugt gewesen wäre.

Warum glauben Sie, dass Reder unschuldig war?
Ich habe den Unterlagen vertraut, die ich hatte. Es gibt viele Hinweise darauf, dass er an dem Massaker weder beteiligt war, noch dass er den entsprechenden Befehl erteilt hat. Soweit ich weiß, war er zur entsprechenden Zeit in einem Lazarett weit weg von Marzabotto. In Österreich gab es damals auch einen breiten Schulterschluss für Walter Reder, über die Parteigrenzen hinweg.

Was würden Sie aus Ihrer eigenen Erfahrung heute einem Politiker mit auf den Weg geben?
Er soll tolerant und objektiv sein. Andere Meinungen zuzulassen und über andere Ideen als die eigenen nachzudenken, war noch nie schlecht. Und er soll die Finger von der Parteibuchwirtschaft lassen. Was meine Mitarbeiter angeht, habe ich bei der Einstellung niemals nach der Parteizugehörigkeit gefragt.

Zur Person
Wilhelm Gorton
1948: Übernahme des väterlichen Betriebs (Land- und Forstwirtschaft, Sägewerk und Kunstmühle)
1951-1991: Mitglied des Gemeinde- und Stadtrates von Straßburg
1964-1991: Bürgermeister von Straßburg
1965-1970: Abgeordneter des Kärntner Landtages
1970-1986: Abgeordneter zum Nationalrat

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