Kinderarmut
Volkshilfe fordert eine Kindergrundsicherung
"Keine Almosen, sondern Rechte": Tanja Wehsely und Michael Häupl fordern im Kampf gegen Kinderarmut eine Kindergrundsicherung.
WIEN. Geschäftsführerin Tanja Wehsely und der Präsident der Volkshilfe Wien, Michael Häupl über Kinderarmut, Almosen und darüber, wo die Politik jetzt dringend handeln muss.
Wie viele Kinder in Wien sind derzeit armutsgefährdet?
TANJA WEHSELY: Jedes fünfte Kind in Österreich ist armutsgefährdet. 25 Prozent davon sind Wiener Kinder.
MICHAEL HÄUPL: Jedes einzelne armutsgefährdete Kind ist eines zu viel. Das ist auch der Grund, warum wir eine Kindergrundsicherung fordern.
Wie soll die Kindergrundsicherung konkret aussehen?
HÄUPL: Zusätzlich zur Kinder- und Familienunterstützung verlangen wir 200 Euro für jedes armutsgefährdete Kind. Damit bräuchten sie sich nicht mehr entscheiden, ob sie sich eine Wurstsemmel oder ein Schulheft kaufen sollen.
WEHSELY: Die Volkshilfe hat mit ein paar Familien zwei Jahre lang einen Pilotversuch gemacht, sie finanziell unterstützt und dabei wissenschaftlich begleitet. Das beweist, dass eine Kindergrundsicherung Familien helfen würde und dass es nicht so ist, dass diese einfach das Geld auf gut Wienerisch gesagt versaufen. Die Eltern hatten mehr Zeit, um einen Job zu suchen, die Kinder hatten nicht dauernd Stresssymptome wie Kopf- oder Bauchweh, sondern konnten Aktivitäten mitmachen, Freunde einladen. Genau darum geht es.
Wie sehr hat Corona die Situation verschärft?
HÄUPL: Corona hat zur Sichtbarkeit wesentlich beigetragen und die Situation zusätzlich verschärft. Wir haben heute rund 800.000 Menschen, die nach wie vor arbeitslos oder in Kurzarbeit sind. Das haben wir in Österreich noch nicht erlebt.
Wird sich die Situation voraussichtlich in den nächsten Monaten verschärfen?
WEHSELY: Wir stehen aktuell vor großen Herausforderungen: Sowohl der Härtefallfonds als auch der Delogierungsstopp werden auslaufen.
HÄUPL: Man stelle sich nur vor, wenn jetzt alle Mietzinsrückstände fällig würden, hätten wir alleine in Wien mit einem Schlag 20.000 Delogierungsverfahren. Dass wir in einer Stadt wie Wien 20.000 Obdachlose – womöglich noch Familien – haben, die auf der Straße leben müssen, ist unvorstellbar. Das geht ja gar nicht!
Wie gehen Sie mit dem Vorurteil, es handle sich dabei um Sozialschmarotzer, um?
WEHSELY: Arm zu sein heißt nicht, aussätzig oder auffällig zu sein. Mit diesem Vorurteil müssen wir aufräumen. Es handelt sich um arbeitende Familien, die manchmal drei Jobs haben.
HÄUPL: Von denen, die in Wien Sozialhilfe beziehen, sind ungefähr 80 Prozent berufstätig. Das heißt, sie haben zwar einen Job oder eine Pension, aber sie erreichen damit nicht das Mindestmaß von 900 Euro im Monat. Und wenn dann jemand von Sozialschmarotzern redet, bekomme ich einen echten Zorn.
Was braucht es, um Kinderarmut abzuschaffen?
WEHSELY: Wir brauchen ein Commitment des Staates Österreich, seine Kinder voranzubringen – und zwar egal, welche Kinder. Denn Kinder sind unsere Zukunft. Die Kindergrundsicherung bietet jedem Kind die gleichen Rechte.
HÄUPL: Wir fordern von der Politik 200 Millionen Euro auf zehn Jahre, in den ersten drei Jahren 100 Millionen Euro und den Rest dann abschmelzend. Wir wollen keine Almosen, sondern die Erfüllung von Rechten. Jedem Kind die gleichen Rechte!
Kundgebung gegen Kinderarmut
Morgen, 2. Juli 2021, veranstaltet die Volkshilfe eine Kundgebung gegen Kinderarmut am Karlsplatz. Dabei kann man sich über die Petition "Kinderarmut abschaffen" informieren.
Los geht es um 18.45 Uhr. Zahlreiche Rednerinnen und Redner – natürlich auch Tanja Wehsely und Michael Häupl – werden zur Kinderarmut Stellung nehmen. Musikalisch begleitet wird das Event unter anderem von der Wiener Band Prohaska.
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