Ausgezeichnetes Zeitdokument zum besseren Verständnis von Tibet, Nepal und Aufschnaiter
Er ging voraus nach Lhasa. Peter Aufschnaiter. Die Biografie.
22. Juni 2019 |Peter Aufschnaiter (* 1899 in Kitzbühel; † 1973 in Innsbruck) war ein österreichischer Bergsteiger, Agrarwissenschaftler, Entwicklungshelfer und Kartograf. Zusammen mit Heinrich Harrer flüchtete er 1944 aus einem britischen Internierungslager in Indien nach Tibet. Aufschnaiter stand sein Leben lang im Schatten Harrers, obwohl er der Kopf und die treibende Kraft hinter „Sieben Jahre in Tibet“ war. Dieses über 400 Seiten starke Buch von Nicholas Mailänder, erschienen im Verlag Tyrolia Innsbruck, schildert spannend das Leben dieses introvertierten Österreichers und beleuchtet u. a. auch das angespannte Verhältnis von Aufschnaiter zu Harrer.
Es waren Aufschnaiters Fähigkeiten, die die Tibeter überzeugten
Das Abenteuer der beiden österreichischen Bergsteiger begann im Jahr 1944, als sie aus einem Gefangenenlager im Norden Indiens flohen. Es führte sie in die ungeheuren Weiten des tibetischen Hochlands im Winter und schließlich erreichten sie nach 20monatiger Flucht in Lumpen die verbotene Stadt Lhasa, wo sie die traditionelle tibetische Gesellschaft in den letzten Jahren ihrer Blüte als Zeitzeugen erleben. Während Heinrich Harrer mit dem schließlich mit Brad Pitt in der Hauptrolle verfilmten Bestseller „Sieben Jahre in Tibet“ weltberühmt wurde, blieb Peter Aufschnaiter weitgehend unbekannt. Dabei war er der Kopf und die treibende Kraft hinter dem aufsehenerregenden Abenteuer: Er kannte Tibet aus langjährigen Studien, zeichnete Karten, sprach fließend Tibetisch und er war es, der die Energie und Entschlossenheit hatte, durchzuhalten und weiterzugehen, wo sein Gefährte längst aufgeben wollte.
Wer aber war dieser geheimnisumwitterte Mann, der auch nach dem Einmarsch der Chinesen 1951 nach Tibet und der Flucht des Dalai Lama 1959 im Himalaya blieb und sich um die Entwicklung Tibets und Nepals wie kaum ein anderer verdient machte?
Mit dieser akribisch recherchierten, ersten umfassenden Biographie, illustriert mit einzigartigem historischen Bildmaterial, wird einem der größten Entdecker, Bergsteiger, Kartographen und Entwicklungshelfer des 20. Jahrhunderts erstmals die Beachtung geschenkt, die er verdient – und die wahre Geschichte hinter dem Mythos packend erzählt.
Tibet – mehr als Religion und Politik
Vom 28. Oktober 2018 bis 8. September 2019 zeigt das Völkerkundemuseum der Universität Zürich in der Schweiz die Ausstellung «Karte – Spur – Begegnung. Die Tibet-Sammlungen von Heinrich Harrer und Peter Aufschnaiter». Das Völkerkundemuseum verwaltet die Nachlässe der beiden Österreicher. Mehr über diese Ausstellung siehe diesen Link.
Was das Buch so spannend macht
Der Autor bringt über weite Teile des Buches Originalauszüge aus den Tagebüchern von Aufschnaiter und verbindet diese, wo notwendig, mit Erklärungen und Ergänzungen. So taucht der Leser unmittelbar in die Erlebnisse und Gefühle Aufschnaiters ein, wenngleich es manche Sätze gibt, die Rätsel aufgeben (weil der Zusammenhang fehlt). Aber jedes Kapitel bietet eine Fülle von Fußnoten zu Quellen und Hinweisen. Zum Unterschied zu Harrers Buch beschreibt Aufschnaiter das Erlebte und Gesehene sachlicher. Dabei fällt besonders auf, dass er durchwegs alle Orte, Berge und Personen mit den tibetischen Namen und Bezeichnungen in seinem Tagebuch festhält. Aufschnaiter hatte an der Universität Landwirtschaft studiert und hält auch aus diesem Blickwinkel immer wieder Gesehenes fest. Nach seiner Flucht vor den Chinesen blieb Aufschnaiter bis zu seinem Tod in Nepal, wo für die FAO der Vereinten Nationen tätig war.
Aufschnaiter als Nationalsozialist
Mit Ernst Reisch, dem Sohn des Kitzbühelers Bürgermeister und Fremdenverkehrspionier Franz Reisch verbrachte er seine Jugend. Nach dem Ersten Weltkrieg, den er an der Dolomitenfront erlebte, unternahm Aufschnaiter viele Bergfahrten und wurde Mitglied im Akademischen Alpenverein München. Er lernte Paul Bauer kennen, der zu einem seiner besten Bergkameraden wurde. Zwei Mal nahm er an Expeditionen zum Kangchenjunga, einen über 6 000 Meter Hohen Gipfel in der Nanga-Parbat-Gruppe im Himalaya, teil. Paul Bauer, der bis 1938 ranghöchster nationalsozialistischer Sportfunktionär war, sorgte dafür, dass der „linientreue“ Aufschnaiter Geschäftsführer der Deutschen Himalaya-Stiftung wurde. 1939 organisierte Aufschnaiter eine Expedition mit dem Ziel, für den noch unbestiegenen Gipfel des Nanga Parbat, mit 8 125 m Höhe der neunthöchste Berg der Erde, eine Aufstiegsmöglichkeit zu erforschen. Unter den Expeditionsmitgliedern war auch Heinrich Harrer. Zwei deutsche Expeditionen waren bereits an der Besteigung unter hohen menschlichen Verlusten gescheitert.
Über diesen Lebensabschnitt Aufschnaiters handelt der erste Teil des Buches (fünf Kapitel, 100 Seiten) und es werden die einzelnen Expeditionen so beschrieben, dass der Leser eine Vorstellung über die Strapazen und Entbehrungen dieser Bergtouren erhält.
Flucht nach Tibet
Noch während sich Aufschnaiter und Harrer auf ihrer Rückreise nach Europa in Indien befanden, brach der Zweite Weltkrieg aus. Die britischen Kolonialherren in Indien internierten alle Deutschen. Das Buch beschreibt in diesem Teil das Lagerleben und die Fluchtversuche von Aufschnaiter. Der Zweite gelang. Aufschnaiter und seine drei Begleiter, die zeitweise getrennt unterwegs waren, erreichten Tibet. Auf 60 Seiten, nun auf der Basis von Tagebucheintragungen, wird dieser Lebensabschnitt beschrieben.
Immer wieder tauchten Schwierigkeiten auf. Örtliche Regierungsvertreter verweigerten den Flüchtlingen die Weiterreise nach Lhasa, der Hauptstadt Tibets, oder die beiden mussten wochenlang auf Nachricht einer übergeordneten Behörde warten; es kam auch zu nicht ungefährlichen Begegnungen mit Räubern. Doch mit List und vor allem Ausdauer gelang es schließlich Aufschnaiter und Harrer, der immer wieder mit Aufschnaiter in Streit geriet, die Stadt Lhasa zu erreichen. Es war wahrscheinlich dem ruhigen Wesen und den guten Sprachkenntnissen des Tibetischen von Aufschnaiter zu verdanken, dass beide ihr Ziel erreichten.
Als Aufschnaiter während seiner Flucht nach Tibet vom verlorenen Krieg und dem Selbstmord von Hitler erfuhr, brach für ihn die Welt zusammen und er versank in eine vorübergehende Depression. Vor allem haderte er mit Hitler, dass diesem nicht der Endsieg gelungen war und „‘‘dass das Schönste, das Einzige, was das Leben wertvoll macht, ist uns wohl für immer versagt – die Zugehörigkeit zu einem großen, stolzen Volk, von dem alles seinen Sinn und seinen Wert erhält.‘‘“
Sieben Jahre Tibet
1944 gelangte Aufschnaiter nach Tibet, im Jänner 1946 erreichte er Lhasa und verließ im Jänner 1952 Tibet auf der Flucht vor den Chinesen. Es war die Fürsprache des jungen Dalai Lama, Tenzin Gyatso, der noch nicht die Regierungsgeschäfte führte, dass Aufschnaiter (und Harrer) in Tibet bleiben durften. Seine landwirtschaftliche Ausbildung war es, die Aufschnaiter Aufträge der tibetischen Regierung brachten und er schließlich ein ranghoher tibetischer Beamter wurde, ebenso wie später auch Harrer im Außenministerium Tibets angestellt wurde. Das Buch berichtet vom Leben Aufschnaiters, der damit sehr zufrieden war und sich eigentlich nur wünschte, für immer in Tibet bleiben zu dürfen.
Im Dienst von Nepal und Indien
Nachdem Aufschnaiter 1952 Tibet schweren Herzens verlassen hatte, konnte er aufgrund seiner langjährigen guten Beziehungen zu britischen Beamten, die trotz seiner Flucht bestehen blieben, Anstellungen in Nepal, dann in Indien und später wieder in Nepal erhalten. Auf 100 Seiten berichtet das Buch über diese interessante Zeit aus dem Leben Aufschnaiters, in der er u. a. für die Briten kartografierte und das Königreich Mustang erforschte. Noch im Alter von über 60 Jahren ging er zu Fuß über 5 000 Meter hohe Pässe und führte darüber Tagebuch, aus dem auch in diesem Abschnitt zitiert wird.
1958, nach über 20 Jahren, reiste Aufschnaiter erstmals in seine Heimat. Nach einem Verzicht auf die österreichische Staatsbürgerschaft zugunsten der nepalesischen (die er für seine Arbeit in Nepal benötigte), erlangte er sie, kurz vor seinem Tod, 1970, neuerlich. Zu diesem Zeitpunkt hatte er Harrer schon einige Male wiedergesehen und wurde erst spät mit ihm per-du. Aber das Verhältnis blieb aufgrund des Buches und der Vorträge von Harrer, bei denen und deren finanziellen Erfolge sich Aufschnaiter ausgeschlossen fühlte, angespannt. Noch kurz vor seinem Tod besuchte Harrer auf Anraten alter Bergkameraden, in der Hoffnung auf Versöhnung, Aufschnaiter im Innsbrucker Krankenhaus. Den mitgebrachten Blumenstrauß warf Aufschnaiter von sich und drehte sich zur Wand.
Was sonst noch im Buch zu finden ist
Am Ende des Buches gibt es eine Zeittafel zu Peter Aufschnaiters Leben, einen aufschlussreichen Beitrag über den Staat Tibet und den Tibetischen Buddhismus im Überblick. Nach einem Literatur- und Quellenverzeichnis hilft ein Personenverzeichnis bei der Suche im Buch. Auf der Rückseite des Umschlages befindet sich eine farbige Karte Südtibets und Nordnepals auf der die Routen von Aufschnaiter 1944 bis 1946 und 1951 bis 1952 eingezeichnet sind.
Das Buch ist eine sehr umfassende Biografie einer stets im Schatten von Harrer gestandenen Persönlichkeit. Für mich ist sie eine doch etwas andere Darstellung der Ereignisse in Tibet im Vergleich zu Harrers Buch. Das Buch schildert von Personen über Rituale und dörflichem Leben bis hin zu politischen Entwicklungen in Tibet und Nepal nicht nur das Leben des österreichischen Bergsteigers. Es ist ein ausgezeichnetes Zeitdokument über einen abgelegenen Winkel der Welt, das zum besseren Verständnis von Tibet, Nepal, Aufschnaiter und sein Wesen beiträgt.
Über den Autor
Nicholas Mailänder, geb. 1949, veröffentlichte zahlreiche Publikationen zu alpinhistorischen Themen (z. B. „Im Zeichen des Edelweiß – die Geschichte Münchens als Bergsteigerstadt“). Das Leben von Peter Aufschnaiter erforscht er seit etwa zehn Jahren und arbeitet dabei eng mit dem autodidaktischen Aufschnaiter-Spezialisten Otto Kompatscher sowie dem Völkerkundemuseum in Zürich zusammen, das den Nachlass von Peter Aufschnaiter verwaltet.
Buchdaten
Er ging voraus nach Lhasa
Peter Aufschnaiter. Die Biographie
Nicholas Mailänder zusammen mit Otto Kompatscher
ISBN 978-3-7022-3693-9
2019 erschienen Verlag Tyrolia Innsbruck
416 Seiten, 68 Schwarzweiß-Abbildungen und drei farbige Karten
22,5 cm x 15 cm
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