Sag niemals "Nie!"
Laufbericht Wien-Rundumadum 2020 Staffel 3. Viertel

So, ab jetzt ist wird's beim Rennen finster ... ;-) | Foto: Hans Stockinger
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Liebe LauffreundInnen,

ich kannte den Wien-Rundumadum bisher nur aus den Geschichten von Freunden - und die waren überwiegend positiv. Trotzdem stand der WRU noch nie auf meiner Laufliste. Abgesehen vom Teil durch den Wienerwald, wo es durch die Natur auf- und ab geht erschien mir als Trailläufer ein Lauf durch die Wiener Vororte wenig reizvoll. Und nachdem zur selben Zeit der Traunstoa-Trail in Gmunden stattfindet war die Entscheidung für mich bisher klar. Aber Corona änderte einiges ... der Traunstoa-Trail wurde wie viele andere Läufe abgesagt. Und als mich ein Freund fragte, ob ich nicht bei seiner Staffel "Reihernde Raser" für eine ausgefallene Läuferin einspringen wolle sagte ich kurzentschlossen "Ja"! Ich sollte das 3. Viertel, also grob Km 66 - Km 98 der "Ganzen G'schicht" mit 130Km übernehmen.

Also sitze ich am 31.10. gegen 15:00 nahe der U-Bahn Station Alaudagasse in Wien-Favoriten (eine mir weitgehend unbekannte Gegend) in einem Cafe und warte auf Patrick und Martin, meine beiden "Fotografen und Betreuer", die vorhaben mich so weit wie möglich am Fahrrad zu begleiten. Das Marmeladekipferl und die Melange als letzte Stärkung vor dem Lauf schmecken ausgezeichnet, Patrick und Martin trudelten ein und wir besprechen kurz die Route. Da meldet sich Daniel, Staffelläufer Nr. 2, und meint daß er von Krämpfen geplagt nur noch langsam weiterkommt - ob ich ihm entgegenlaufen und ihn schon früher ablösen kann? Klar kann ich ... also geht es los, erstmal in die "falsche" Richtung, Daniel entgegen ...

Schon bald werden wir auf ein Problem aufmerksam, das ich bei "richtigen" Trailläufen üblicherweise nicht habe: Verdammt, wie ist denn dieser Lauf ausgeschildert? Wo sind die Markierungen ...? Es dauert ein Weilchen, bis wir "Kinder vom Land" kapieren daß es nur winzigkleine weiße Schildchen mit einer Art rotem Herz drauf gibt die im Wiener Schilderwald hoffnungslos untergehen ... na das kann ja heiter werden! Nach einem guten Kilometer treffen wir Daniel, ein kurzes "Hallo, wie war's", Übergabe von GPS-Tracker, Streckenbuch, Handy und Notfallpackerl und auf geht's in's Vergnügen!

Nun, Anfangs kann man nur bedingt von "Vergnügen" sprechen. Wie befürchtet sind wir auf den ersten Kilometern voll und ganz damit beschäftigt, die Strecke zu finden ... schon im Volkspark Laaerberg laufen wir gleich mal falsch ... aber mit meinen beiden "Guides" zur Seite wird das schnell besser. Die entwickeln rasch einen guten Blick für die winzigen Schildchen. Martin fährt immer ein Stück voraus, sucht die nächste Abzweigung und macht Fotos, Patrick bleibt neben mir und unterhält mich mit - passend zu meiner Hose - Musik von AC/DC aus dem Lautsprecher auf seinem Fahrrad. Tja, wer hat der hat ;-))) Und bald laufe ich wirklich entspannt dahin, schaue mir die Gegend an, plaudere mit Patrick - ja, das ist schon sehr vergnüglich. Es geht die Bleichsteinerstraße hinunter und ... Waaaauuuuuu! Was ist denn DAS?! Eine unglaubliche Landschaft liegt in intensivstem Abendrot vor uns! Ein riesiges Feld, gigantische Strommasten, ein paar große flache Gebäude und dahinter sowas wie lockerer Wald und Felder ... und das alles in einem unglaublichen Rotorange! Wo bin ich? Das kann doch nicht Wien sein ... langsam laufe ich weiter auf die Grenzstraße, über dieses endlose Feld, der Blick weitet sich immer mehr ... unfassbar! Das unwirkliche Abendlicht beleuchtet die gewaltig Baustelle beim Alten Zollamt, die Kräne, die Gasometer-Zylinder, das Kraftwerk Simmering, reflektiert aus unzähligen Fensterscheiben ... Und auf der anderen Seite, hinter der flachen Kuppe des Laaer Berges, glüht der Widerschein der untergegangenen Sonne auf den Wolken - das ist nicht mehr kitschig, das ist schon jenseitig! Aber noch nicht alles ... es wird noch besser! Im Osten, beim Kraftwerk Simmering, schält sich ein Regenbogen aus dem dunklen Himmel, scheint direkt aus dem Schornstein aufzusteigen, wird immer deutlicher, spannt sich weiter und weiter über den Himmel ... x mal bleibe ich auf dieser Strecke stehen, dreh mich herum, kann dieses Panorama einfach nicht fassen. Die Kinder fotografieren wie wild und als wir den Bahnhof Kledering überqueren bin ich wie berauscht, "high" von den Farben, den Bildern und den Klängen von AC/DC, die mich die ganze Zeit begleiten ...

Nun ändert sich die Szenerie, es wird dunkel. Dazu passt die Mauer des Zentralfriedhofs im Weichseltalweg, düstere mit Efeu überwucherte Tore aus Schmiedeeisen und Gebäudeteile, die an einen alten Dracula-Film erinnern ... cool! Ich laufe durch wie durch eine Filmkulisse, biege auf die Simmeringer Hauptstraße ein, es geht Richtung Haupteingang. Und gerade jetzt klingt aus Patrick's Lautsprecher "Hells Bells" - kitschig, irre, schon wieder filmreif :-) Vor dem Haupttor des Zentralfriedhofs machen wir eine kurze Pause. Ich brauche ein wenig Stärkung, krame meine Stirnlampe und meine Hörner aus dem Rucksack - schließlich ist ja auch Helloween und Spaß muß sein - und dann geht's auf in die Nacht. In der Anton-Mayer-Gasse laufen wir auf eine junge Läuferin auf die wir ein Stück begleiten. Sie meint "Du läufst aber noch sehr locker" "Kein Wunder, ich mach ja nur einen Staffelteil und hab erst 10Km in den Beinen - was läufst du?" "Ich mach die Dreiviertel-G'schicht und hab zum Glück nur noch so 10-12Km vor mir!" Na Bumm! Die Dame hat bereits 75Km in den Beinen und läuft kaum langsamer als ich ... meine Hochachtung! Locker plaudernd geht es durch den Abend, irgendwann trennen sich unsere Wege wieder.

Knapp vor dem Freudenauer Hafen durchzuckt es mich plötzlich - wo habe ich eigentlich mein Handy? Im Seitenfach vom Rucksack ist es nicht ... Scheiße!!!! Ich bleib stehen, such den Rucksack durch - nichts! Verd... ich muß es beim Haupteingang vom Zentralfriedhof, wo wir Pause gemacht haben, liegengelassen haben :-((( Was täte ich jetzt ohne meine "Begleitmannschaft"? Patrick fährt zurück um das Handy zu suchen, Martin begleitet mich einstweilen weiter, später werden wir Patrick per GPS wieder zu uns lotsen. Der nächtliche Freudenauer Hafen ist ein imposanter Anblick, die Lichtspiegelungen auf der Donau tolle Fotomotive - Martin "tobt" sich aus während ich auf der Donauinsel ein Stück vorauslaufe. Idyllisch ist es hier, auf einer Wiese lagern Leute, grillen, Musik tönt herüber ... über die Steinspornbrücke geht es zum Biberhaufenweg, da klingelt Martin's Telefon. Patrick ist dran - er hat mein Handy gefunden! Mir fällt ein Stein vom Herzen - uffffffffff! Wir geben Patrick den Gasthof "Roter Hiasl" neben dem wir gerade stehen als nächsten Zielpunkt an, dann biegen wir scharf rechts ab in die Lobau - und es wird richtig finster :-)

Ha, das taugt mir! Nach etwa 15Km fühle ich mich noch tadellos, die Sorge um mein Handy hat sich erledigt und so interessant die Strecke bisher auch war - ich freue mich auf Natur, Wald und trailige Pfade! Dafür wird es für Martin jetzt schwieriger - statt gut beleuchteter Asphaltstraßen hat er plötzlich stockdunkle Forst- und Waldwege unter den Rädern, teilweise gatschig und verspurt ... nicht ganz einfach! Aber wir kriegen es super hin, die kleinen reflektierenden Wegweiser sind ausgezeichnet zu sehen, die Strecke gut beschildert und die Nacht voller Geräusche und unerwarteter Begegnungen. Ein paar Schwäne auf einem kleinen Gewässer, mehr als Schemen zu erkennen, zwei Rehe deren Augen aus dem Unterholz leuchten, ein toller Steg über eine Art Sumpf - viel ist ja nicht zu erkennen, einige abendliche Spaziergänger die sich über meine blinkenden "Teufelshörner" amüsieren und dann wieder Wald und Dunkelheit. Irgendwann blinkt wieder ein Licht zwischen den Bäumen auf, ein wenig menschliche Zivilisation kündigt sich an - fast wie im Märchen: Die zwei einsamen Reisenden kommen zum "Knusperhäuschen"!

Eine Holzhütte mitten in der Lobau, davor ein paar Bänke und Tische und eine lustige Runde, die uns begrüßt. Meine AC/DC Hose kommt sofort gut an und mirnixdirnix sind wir in eine nette Unterhaltung verstrickt: Woher wir sind, wie man auf so eine verrückte Idee kommen kann, da mitzulaufen, ob wir nicht ein wenig sitzenbleiben und was essen und trinken wollen ... gerade ist die Nachricht vom Tod Sean Connery's gekommen, da wird diskutiert und in Erinnerungen geschwelgt ... Ich geb's zu - die Versuchung ist groß, es ist wirklich urgemütlich hier mit dieser lustigen Runde beim Knusperhäuschen. Ich fühle mich fast wie in einer der "Alltagsgeschichten" von Elizabeth T. Spira ... aber nach einer Viertelstunde verabschieden wir uns von Robert und seinen Freunden und brechen, ein wenig gestärkt, wieder auf in's Abenteuer. Patrick ist inzwischen beim "Roten Hiasl" angekommen, doch es ist so gut wie ausgeschlossen, daß er uns in der Nacht irgendwo in der Lobau finden kann. Also schicken wir ihn zum Gasthof "Hansi" weiter, für uns sind das noch ca. 8Km.

Und die beginnen gleich mal mit einem Hindernis - Baumstämme liegen über den Weg, Martin muß sein Fahrrad drüberheben. Beim Zentrallager der OMV geht es vorbei, dann entlang einer riesigen Wiese die im Mondlicht liegt ... märchenhaft! Mir geht es immer noch ausgezeichnet, ich schlage ein flotteres Tempo ein und trabe - entspannt mit Martin plaudernd - über die Waldwege durch die Nacht - herrlich! Die Kilometer purzeln dahin, irgendwann kommen wir an einem anderen Läufer-Radfahrer-Team vorbei. Der Läufer geht nur mehr - "Braucht ihr was? Wasser, Riegel, ...?" "Nein, es geht schon ..." "OK, dann viel Glück!". "Na hoffentlich hat der nicht mehr allzu weit ..." denke ich mir und weiter geht es. "Schau, schau, da ...!" zische ich Martin an - aus dem Gestrüpp am Wegesrand leuchten uns zwei intensiv gelbe Katzenaugen an! Eine Wildkatze? Gibt es hier welche? Sie scheint sich sicher zu fühlen, läuft nicht weg. Langsam gehen wir weiter - sie folgt uns im Gebüsch, beobachtet uns ein Stück - und ist dann plötzlich weg. Wau, sowas hab ich noch nie erlebt! Der Weg ist jetzt zu einer geschotterten Waldstraße geworden, kein Problem zum Laufen oder Radfahren und - höre ich da nicht Geräusche in der Ferne? Wir nähern uns wieder der Zivilisation! Einmal um's Eck, dann über eine Art Brückerl und wir stehen vor dem Gasthaus "Hansi".

Patrick wartet schon eine Weile hier auf uns, ich bin froh daß wir wieder zusammen sind und ich mein Handy wieder habe. Und jetzt, wo ich stehenbleibe, merke ich, daß ich nicht mehr ganz taufrisch bin. Das zuletzt etwas höhere Tempo, Hunger und Durst machen sich bemerkbar, eine kurze Pause ist angesagt. Als es weitergeht spüre ich ein leichtes Ziehen in den Oberschenkeln - darum stört es mich garnicht, daß es jetzt wieder mehr Licht und Asphalt gibt. Etwas langsamer, dafür aber wieder mit Musikbegleitung geht es durch die nächtlichen Straßen von Essling. Haben wir bisher kaum andere LäuferInnen getroffen, so laufen wir jetzt immer wieder auf welche auf. Zum Großteil wohl Leute, die die "Ganze G'schicht" mit 130Km machen - meine Bewunderung wird immer größer: Die haben alle schon über 90Km hinter sich - und noch gut 35 vor sich. Ich bin inzwischen nicht traurig, daß für mich das Rennen in 5Km zu Ende ist: Ich habe für diesen Lauf die Salomon Sonic RA Pro 2 gewählt, leichte Allround-Schuhe, mit denen ich bisher auf Asphalt und im leichten Gelände sehr gute Erfahrungen gemacht habe. Aber ich bin nie länger als eine Halbmarathon-Distanz damit gelaufen. Inzwischen, nach über 30Km, scheuert der rechte Schuh an den Zehen, das schmerzt und nervt.

Aus Essling geht es hinaus auf einen Feldweg und - Platsch! Tappe ich mitten in eine Lacke. Na super, da lauf ich in der Nacht durch die ganze Lobau und steig nirgendwo rein und hier auf dem läppischen Feldweg hol ich mit nasse Füße! Sch ... Aber vielleicht hätte ich die Stirnlampe wieder einschalten sollen als ich aus Essling rausgelaufen bin und die Straßenbeleuchtung weg war ... ;-) Wieder geht es durch eine Siedlung, dann die Seestadt Aspern entlang und weiter auf die Ostbahnbegleitstraße. Die U-Bahntrasse und die Station Aspern-Nord leuchten schon in der Dunkelheit, immer wieder rattern die beleuchteten U-Bahn Garnituren darüber, mein Ziel ist nahe und dann haben wir es geschafft: Andreas, unser Schlußläufer, wartet bereits, ein kurzes Abklatschen, gemeinsames Foto, Übergabe von GPS-Tracker, Streckenbuch, Handy und Notfallpackerl und ein "Viel Glück!", das war's dann.

Was soll ich sagen? Spaß hat es gemacht, viele neue Eindrücke habe ich gewonnen, ich muß mein Vorurteil über den WRU korrigieren. Nicht, daß ich das jetzt jedes Jahr machen will, aber bei Gelegenheit werde ich sicher wieder vorbeischauen, auf ein oder zwei Viertel. Daß ich mir die 3/4 oder gar die "Ganze G'schicht" jemals antun werde kann ich mir zwar nicht vorstellen ... aber sag niemals "Nie"! ;-)

P.S.: Vielen Dank an Andreas und das Team "Reihernde Raser" für die Einladung, es war mir ein Vergnügen. Es ist zwar schade daß wir mit 15:08 die Gold-Zeitkategorie knapp verpasst haben, aber für mich war das ein Erlebnislauf, da wollte ich nicht im Renntempo durchzischen, er war es wert, genossen zu werden.
Vielen Dank auch meinen "Guides" Patrick & Martin, ihr habt mir sehr geholfen und diesen Lauf toll begleitet!
P.P.S.: Gratulation auch an die Organisation, die - soweit ich es beurteilen kann - diesen Lauf trotz schwieriger Vorgaben gut organisiert hat. Nur diese kleinen Schildchen in der Stadt ... die sind für mich sehr gewöhnungsbedürftig. Info's, Streckenpläne, Ergebnisse usw. gibt es auf www.wien-rundumadum.at

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