Strampeln für Fortgeschrittene
Sepp Gauster probiert ein Lastenrad in klassischem Layout. Mit dieser Art Fahrrad, vorne einen Korb, habe er während seiner Bäckerlehre Waren ausgeführt.
Sepp ist alt genug, um diese ganze Entwicklung durchlaufen zu haben, und fit genug, um manche von den Jungen alt aussehen zu lassen. Die ganze Entwicklung?
Fahrräder waren ursprünglich teure Wertgegenstände, Automobile blieben bis nach dem Zweiten Weltkrieg für die meisten Menschen unerschwinglich. Die Nazi versprachen zwar individuelle Freiheit und Teilhabe am kommenden Wohlstand durch den Privatbesitz eines „Volkswagens“, doch sie nahmen nur die dafür gesparten Gelder, den KdF-Wagen blieben sie der Kundschaft schuldig.
Fahrräder bildeten weiter die Garanten persönlicher Mobilität, Motorräder waren einer Minorität vorbehalten. In der Zweiten Republik war der „Wiederaufbau“ zu bewältigen. Immerhin hatten unsere Leute Europa in Schutt und Asche gelegt.
Es folgte die Maschinisierung der Landwirtschaft und die Modernisierung der Industrie. Wegen fälliger Reparationsleistungen aus der Kriegsschuld waren etwa viele alte Fertigungsanlagen der Industrie nach Rußland verbracht worden. Bei uns war Platz für neue Maschinen. Effizienzsteigerung stand ganz oben auf vielen Listen.
Die neue soziale Revolution kam mit der Volksmotorisierung. Das Auto wurde zu einem Fetisch und zu einem sozialen Statement. In diesem durch Propaganda stark unterfütterten Prozeß verloren Fahrräder massiv an Bedeutung. Sie gewannen später wieder an Rang, als uns der Wohlstand ausreichende physische Schäden aufbürdete, die durch körperliche Bewegung gemildert werden können.
Das Fahrrad als Sportgerät und als Medium verschiedener Subkulturen, das ergab freilich noch kein Massenphänomen. Aber die Räder sind als tragfähige und wendige Vehikel nie von unseren Straßen verschwunden.
Heute macht die praktische Erfahrung in urbanen Räumen das Auto als Freiheits-Fetisch zum Witz. Und wo sich herumspricht, daß nur ein Teil der rollenden Ideologie-Maschinen wirklich in Privatbesitz sind, während gerade die prächtigsten Exemplare oft geleast beziehungsweise auf Pump angeschafft werden, hat das Auto als soziales Statement nur mehr ganz bescheidenen Restwert.
Es ist wieder so, wie in den Anfängen des Automobilismus. Man muß schon sehr viel Geld haben, um per Automobil ein exklusives Statement abgeben zu können. Der Rest an großer Geste verkommt überwiegend in kleinen Glanzstücken einer Schnösel-Kultur. Der hunderttausendste gepimpte Golf oder mühsam aufgebrezelte Seat begeistert bestenfalls den eigenen Freundeskreis.
Mit Fahrrädern sieht das ganz anders aus. Was sie einem an Mobilität im urbanen Leben anbieten, läßt sich auch durch symbolische Gesten auffetten. Historie und technischer Fortschritt, Dekoration und Modifikation geben viel Spielraum für individuelle Ambitionen.
In all dem schimmert außerdem durch, was die meisten vergessen haben. Technisch und sozial ist die Fahrradwelt das Fundament des Automobilismus im 20. Jahrhundert.
Mit diesem Aspekt spielen manche vergnügt. Mit der „Upcycle-Kultur“ entstehen wieder kleine Handwerksbetriebe, die eine Mischung aus Recycling und kühnem Customizig zeigen, ein kreatives Modifizieren von Fahrzeugen.
Wie nun die bedenkenlose Autonutzung verwöhnter Wohlstandsmenschen zunehmend ihre Grenzen erreicht, vor allem in den Kosten und im Platzangebot, aber auch in den ökologischen Konsequenzen, erstrahlt der eigentliche Klassiker, das Fahrrad, in einem kuriosen neuen Licht.
Wir fahren immer noch das „Safety“, das historische Niederrad, wie es sich Ende des 19. Jahrhunderts durchgesetzt hat. Aber es hat über Material, Verarbeitungsprozesse und soziokulturellen Kontext einen viel weitreichenderen Bedeutungszusammenhang erhalten, der inzwischen immer stärker belebt wird und sich in unserem Straßenbild mehr und mehr zeigt.
Das zieht auch erstaunliche Formenspiele und Konstruktionen nach sich, nicht zuletzt schöne Dekors und schrille Spielereien. Achten Sie ein wenig darauf, wenn Sie in der Stadt unterwegs sind. Da gibt es höchst staunenswerte Exemplare…
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