Kultur kurios: Kotzen ist keine politische Kategorie
Es geht derzeit nicht bloß darum, Menschen auf der Flucht für einige Zeit beizustehen. In diesem Beistand haben wir offenbar auch Felder des öffentlichen Diskurses zu befestigen, denn diese wohlhabende Gesellschaft erstellt gerade ihre Landkarten der Bedeutungen neu, prüft ihre Auffassungen von Menschenwürde.
Dabei werden zunehmend Töne laut, die eine Herrenmenschen-Art erkennbar machen. Diese Töne sind mittlerweile anscheinend in allen Milieus salonfähig. Das läßt sich nicht übertönen, das muß verhandelt werden.
Wer in kulturellen Fragen nicht gerade als Agent der Blödheit gelten will, hat die Erfahrung selbst schon gemacht: Es entsteht ein sozialer und kultureller Gewinn, wenn man mit etwas mehr als bloß einem selbst beschäftigt ist.
Das gilt uneingeschränkt für alle Arten von Beziehungen, seien es gerade einmal zwei Leute, seien es Familien oder ganze Völker. Österreich ist, wie das westliche Europa, in seinen Annehmlichkeiten und seinem reichen Erbe eine Frucht solcher Vielfalt und Kontraste.
Derlei Klarheiten vergehen natürlich vielen Leuten ganz flott, wenn ihnen schwant, daß sie ihre Annehmlichkeiten mit anderen Menschen teilen sollten. Die Ausflüchte, um das zu vermeiden, sind abenteuerlich bis grotesk. Gut, so viel Egoismus müßte jemand in einer Demokratie haben dürfen, das sollte eine zeitgemäße Gesellschaft aushalten können.
Aber derzeit hat sich etwas ganz anderes herauskristallisiert, hat neue politische Relevanz errungen. Solche Art Egoismus, wie wir ihn einst von „Herrenmenschen“ lernen durften, organisiert sich, wird via Massenmedien promotet. Das ist eine andere Kategorie als wenn Leute im Alltag ihre Meinungsfreiheit pflegen und an Wirtshaustischen räsonieren.
Dieser Egoismus leistet sich Menschenverachtung, die steigendes Organisationsniveau schafft. Und da er politische reüssiert hat, sich medial mitteilen darf, fühlen sich immer mehr Menschen ermutigt, jene anzufeinden, anzugreifen, die sich solchen Tendenzen handelnd entgegenstellen.
Das fiel mir eben wieder auf, als ein Zeitungsartikel unter dem Titel „Grazerin setzt Kontrapunkt zur Hetze gegen Flüchtlinge“ über Tina Wirnsberger und ihr aktuelles Engagement berichtete.
Wirnsberger initiierte ein Kommunikationsprojekt, das exemplarisch sichtbar macht, wer sich in der Steiermark nicht vor der Welt und nicht vor fremden Menschen fürchtet. Das am Beispiel hauptsächlich privater Initiativen, die sich lokal und regional Kriegsflüchtlingen widmen, um ihnen nach Kräften einige Tage, Wochen oder Monate zu erleichtern.
Es muß einem freistehen, das für Unfug zu halten. Angst ist ja grundsätzlich irrational, das brauche ich mit niemandem verhandeln. Dann gibt es eben einander widersprechende Positionen. Gut. Gut?
Am genannten Artikel fällt eines besonders auf. Er löste über die angeschlossene Feedbackmöglichkeit im Web sofort eine Flut von Häme aus. Es wurden nicht bloß Wirnsbergers Ideen angefochten, sondern sie selbst attackiert und diffamiert.
Damit ist ein wichtiges Kriterium für solche Kontroversen kenntlich gemacht; nämlich der kategoriale Unterschied zwischen der Kritik an einer Sache und dem Angriff auf eine Person.
Karl Popper hat uns die ausdrückliche Anregung hinterlassen, wir mögen Ideen angreifen, aber nicht die Menschen, die diese Ideen haben. Popper appellierte: Laßt Theorien sterben anstatt Menschen.
Ich denke, das ist eine Mindestanforderung, die wir in Auseinandersetzungen stellen müssen: Wenn du mich als Person herabwürdigst, kann ich mich mit deinem Anliegen nicht befassen. Daraus läßt sich auch ein brauchbarer Umkehrschluß herleiten.
Wo in einer Debatte die Debattierenden beleidigt, beschimpft, herabgewürdigt werden, ist jeder relevante Inhalt weg, weshalb die Debatte abgebrochen werden sollte. Ich denke, das gilt natürlich ganz unausweichlich in beide Richtungen.
Das Herabwürdigen von Andersdenkenden scheint enorme Anziehungskraft zu haben. Ich finde das auch oft genug bei jenen, die sich gegen „Vaterländische“ aus dem Fenster hängen und sich in kraftvoller Moraltrompeterei auf einer besseren Seite wähnen.
Ganz unter uns, es schert mich ja einen Schmarren, ob jemand die Ansichten anderer „zum Kotzen“ findet und dann „gar nicht genug kotzen kann“, denn solche Exegese von Magenzuständen verweist ja hauptsächlich auf Sprachlosigkeit, vermutlich die kleine Schwester der Ratlosigkeit.
Außerdem ist das Kotzen weder eine soziale, noch eine politische Kategorie, sondern meines Erachtens pures Privatvergnügen. Da sollte uns schon mehr einfallen, so wir am Lauf der Dinge etwas Wohltuendes bewirken möchten.
+) Die Quelle: „Grazerin setzt Kontrapunkt zur Hetze gegen Flüchtlinge“ [link]
+) „Kultur kurios“: Überblick: [link]
P.S.:
Warum dieses Foto zu derlei Beiträgen? Ich möchte auf ein dringendes Problem vieler meiner Landsmenschen hinweisen. Sie fürchten heute schon, dereinst im eigenen Land fremd zu sein. Das kommt natürlich nicht durch die Fremden, sondern daher, weil sie jetzt schon zu wenig von unserer eigenen Geschichte und unserer eigenen Kultur kennen, was es ja bekanntermaßen schwierig macht, sich einem „kollektiven Wir“ anzuschließen.
Das heißt, Menschen, die von langjähriger Kultur- und Wissensarbeit nicht erreicht und hilflos einem schier endlosen TV-Konsum ausgeliefert waren, wahlweise anderem Zeitvertreib, leiden auf sehr verständliche Art an einer schwächelnden Selbstwahrnehmung. Vielleicht fällt uns ja was ein, wie man dieser bedrohten Art autochthoner Mitmenschen etwas Ermutigung zukommen lassen kann, irgend eine Art von Trost und Rat.
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